zum Hauptinhalt
Die Dune du Pilat an der Atlantikküste bei Arcachon, Schauplatz von Victor Jestins Roman "Hitze"

© dpa

Victor Jestins Debütroman "Hitze": 40,2 Grad am Morgen

Flirrend-komplexe Pubertät:Victor Jestins lesenswerter Debütroman „Hitze“.

E s ist verblüffend, wie es dem gerade einmal 26-jährigen französischen Autor Victor Jestin gleich auf der ersten Seite seines Debütromans „Hitze“ gelingt, (Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Kein & Aber, Zürich 2020.157 Seiten, 20 €.) diverse literarische Assoziationen heraufzubeschwören.

„Oscar ist tot, weil ich ihm beim Sterben zugesehen habe, ohne mich zu rühren“, lässt er seinen 17 Jahre alten Ich-Erzähler Léonard anheben – und schon muss man an Albert Camus’ Mersault aus „Der Fremde“ denken, so kühl und nüchtern schildert Léonard den von Oscar selbst herbeigeführten Strangulierungstod an einer Schaukel.

Angesiedelt ist „Hitze“ auf einem Campingplatz an der südlichen französischen Atlantikküste, in der Nähe von Archachon und Dax – und bei diesem Ambiente wiederum fühlt man sich schnell an Nicolas Mathieus 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Wie später ihre Kinder“ erinnert, der ebenfalls an einem heißen Sommertag auf einem Campingplatz beginnt, allerdings in der nordostfranzösischen Provinz.

Wie ein Mörder fühlt sich dieser Léonard

Anders als Mathieus Roman ist „Hitze“ aber keine Milieustudie. Jestin erzählt von einem pubertären Erwachen, von Teenage-Lust und Teenage-Frust. Und das macht er ungemein präzise und nachvollziehbar. Man meint bei der Lektüre förmlich in den Körper des Erzählers hineinkriechen zu können, sein Unwohlsein, seine paradoxen Gefühlslagen am eigenen Leib zu spüren.

Wie ein Mörder fühlt sich dieser Léonard, als er dem gleichaltrigen Oscar beim Sterben zusieht und ihn danach noch im Dünensand verscharrt.

Es ist der letzte Ferientag, überdies der heißeste Tag des Jahres mit 40 Grad, und der Junge will eigentlich bloß weg, auch weil er sich selbst gerade so gar nicht mag. Trotzdem schaut er nach den Mädchen, fühlt er sich zu der schwierigen Luce hingezogen, muss er sich mit anderen Jungs auseinandersetzen, sieht er seinem jüngeren smarten Bruder neidisch bei dessen Liebeleien zu.

Jede Sommerferien finden ihr Ende

Dazu immer die Gedanken an den vergrabenen toten Oscar, die Angst vor der Entdeckung, der Reiz sich zu stellen, die vorherrschende ritualisierte Urlaubsstimmung am Meer und hinter der Düne, „eine Fabrik, die in der Sonne auf Hochtouren lief“, ein aufziehendes Unwetter, und im Hintergrund läuft ein Soundtrack mit Luis Fonsis „Despacito“ oder Will I Ams „I Gotta Feeling“. 

All diese Motive verschränkt Victor Jestin in seinem schmalen Roman zu einem atmosphärisch flirrenden, fest gespannten Erzählgewebe. Sein Léonard ist eine gleichermaßen anziehende wie abstoßende Figur, die man so leicht nicht vergisst. Ein Glück, dass die Sommerferien jedes Jahr wieder zu Ende gehen.

Zur Startseite