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Florentina Holzinger ließ in „Etude for Church“ Menschen in Kirchenglocken und an Fleischerhaken baumeln.

© Berlin Atonal/Manya Wallraff

Viel zu verdauen beim Berlin Atonal Festival: Eine Reizüberflutung, die man nicht missen wollte

Menschen an Fleischerhaken, Atombomben, Tropfen in Zeitlupe. Das Berlin Atonal Festival beweist, dass es zu den führenden europäischen Festivals für experimentelle Musik und visuelle Kunst gehört.

Stand:

Berlin Atonal ist schon eine Institution in Berlin. In diesem Jahr umschließt das Musikfestival sechs Clubnächte an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden, die Wochentage dazwischen werden mit einer Ausstellung überbrückt, in der jeden Abend Konzerte und Live-Performances stattfinden.

Das Atonal hat zuletzt auch mit internationalen Produktionskooperationen jenseits des jährlichen Festivals auf sich aufmerksam gemacht, wie zum Beispiel mit dem gefragten Künstler Cyprien Gaillard, aber hier im Kraftwerk ist sein Ursprung.

Schon beim Betreten der Halle spürt man die Gravitas der ikonischen Architektur, die Verlangsamung Zeit, die Umstellung aller Sinne auf diese besondere Umgebung.

Ausstellung als Puzzle

Schon das Gebäude präsentiert sich als Kunstwerk, mit warmem Licht werden seine Nischen und atemberaubenden Höhen in Szene gesetzt. Das ehemalige Heizkraftwerk Mitte wurde 1960 erbaut, der riesige Raum mit mehreren Etagen wird vom Publikum für seine etwas unheimliche Kombination aus sakraler und industrieller Atmosphäre geliebt.

Wie ein großes Puzzle verbindet die diesjährige Ausstellung sehr einfühlsam Installationen mit und ohne Klang. Allerdings sind die Puzzleteile mit dem Bild nach unten gedreht, man muss – und man darf! – sich seinen eigenen Weg bahnen.

Die skulpturale Arbeit „Reclaimed Damages” von Bridget Polk steht genau dafür: Die Künstlerin ist selbst vor Ort und balanciert Steine und gefundenen Bauschutt zu schlanken Skulpturen, die ein bisschen an Stalakmiten erinnern. Sehr fragil und in ständiger, spannungsvoller Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung, steht sie metaphorisch für die Idee der Ausstellung.

Gleich dahinter findet sich eine Arbeit von Valie Export, die von der Decke hängende Orgelpfeifen zu Raktenprojetilen umdeutet; im Programmheft werden diese als Stalaktiten bezeichnet.

„Reclaimed Damages“ von Bridget Polk.

© Frankie Casillo

Alle hören und sehen etwas anderes

Der „Universal Metabolism“ der hier heraufbeschworen wird und der Ausstellung ihren Titel gibt, muss wie die Austern im New Yorker Hafenbecken eine ganze Menge verdauen: Romeo Castelluccis „The Third Reich”, Valie Export’s Atombomben, die Geschichte des Gebäudes, die Musikgeschichte der Stadt Berlin… und nicht zu vergessen alles, was gerade jetzt passiert.

Dies scheint auch die Installation von Mire Lee zu spiegeln, ein kinetisches und gleichzeitig sehr organisches Objekt: Ein riesiges in flüssigem Ton getränktes Gewebe wird durch einen Tropf-Mechanismus im Zeitlupentempo abgespült. Es entsteht, wie der Titel verrät, „A room with many holes”.

Laxlan Petras + Yasmin Saleh, Humanities.

© Frankie Casillo

Im Ausstellungsraum jedoch sind die meisten Löcher im Boden mit Pappe abgedeckt und jede zweite Tür mit einer Kette versperrt. Die Installationen gehen nur zu bestimmten Zeit an, alles scheint in einem Prozess, dessen Regeln die Besucher nicht komplett überblicken können.

Ein Highlight, das man am liebsten alleine hören möchte: Eine Komposition der Klangpoetin Ain Bailey, die noch an anderer Stelle in dem Video „Oh Adelaide” von mit Sonia Boyce kollaboriert, die im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen für ihre Präsentation im Britischen Pavillon erhalten hat.

Beeindruckend auch die Performance von Billy Bultheel, die eine Ecke des ersten Obergeschosses belegt und mit Blechbläsern, Gesang und Perkussion eine stimmungsvolle akustische Symbiose mit der Architektur eingeht.

Anderen Konzerten gelingt das leider nicht so gut, aber dafür gibt es zahlreiche kleinere Räume wie das Ohm, in dem zum Beispiel Ziúr, eine echte Berliner Musik-Ikone, ein tanzbares Set spielt und sehr gekonnt Tracks von ihrem neuen Album Eyeroll einspeist.

Jedes Konzert ist ein Kunstwerk, und jedes Werk ist als Live-Moment von anderen Werken abhängig. Dieses Zusammenspiel ist mindestens so fragil wie die Schutt-türme von Bridget Polk.

Auf dem Weg nach draußen – zugegebenermaßen nicht ohne Umwege – finden sich noch viele weitere Licht- und Videoinstallation und Diashows – alle von tollen Künstler*innen, aber irgendwie sind sie hier kaum von der Raumgestaltung zu unterscheiden.

Im Kopf bleibt die Zeile aus der Arbeit „When we were Monsters” von James Richards und Steve Reinke: „The animals are sleeping and we should be too.“ Vor der Tür trifft man Menschen, die alle etwas anderes gesehen und gehört haben. Das ist schön.

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