Kultur: Vierzig Jahre Redezeit
Ein ABZÄHLREIM von Rüdiger Schaper
Ganz Berlin ist eine Talkshow, die Hauptstadt der Rede-Republik generiert traumhafte Debatten. Zum Beispiel: Waren die 68er in Wahrheit totalitäre Widerlinge im antiautoritären Schafspelz? Mit der These irritiert der kluge und sensible Historiker Götz Aly das ergraute Publikum. Jüngere kapieren ohnehin nicht, weshalb die Demo-Helden, WG-Erfinder, Freie-Liebe-Strategen und Kita-Gründer immerzu unter rhetorischem Waschzwang leiden, was jederzeit in schlimme Logorrhöe umschlagen kann. Scheint ein Altersproblem zu sein. Waren die 68er nicht vielmehr ein Erfolgsmodell – politisch, ökonomisch, sexuell? Wozu müssen sie sich ständig rechtfertigen, und nur, weil wir jetzt so ein – schiefes – Jubiläum haben? Vierzig Jahre 68, was schon 67 oder 64 begonnen hat?
Ob in der Akademie der Künste oder sonst wo – die 68er reden. Verteidigen sich gegen die Anti-68er, von denen es jetzt plötzlich viele gibt, vor allem in der Generation 89. Und die 68er-Verächter sind so unsympathisch, so renitent, so neorechts, dass man die nervigen 68er schon wieder gut finden muss. Dialektik!
Alys These vom Nazitum in der Studentenbewegung (sic!) kann also schon deswegen nicht richtig sein, weil die 68er endlos über ihre Vergangenheit reden, sie schweigen nicht, wie ihre Väter es getan haben. Wahrscheinlich haben die 68er, die sowieso auf alles ein Patent erheben, auch die Talkshow erfunden.
All diese 68er-Diskussionen sind allerdings rein deutsch, eine einzige Nabelschau der alten Bundesrepublik und West-Berlins. Wer erinnert daran, dass jenes annus mirabilis weltweit bewegt hat. Es war womöglich die erste globale Protestbewegung, wenn auch nicht zusammenhängend. 68 war ein kulturelles Phänomen, was selbst jene anerkennen, die 68 als gewaltaffin und intolerant beschimpfen. 68 schließlich – wenn man Woodstock dazunimmt, was dann 69 war – markiert den Beginn der endgültigen Kommerzialisierung der Kultur. Von wegen Politik. Man nennt es Pop.
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