Kultur: Visionär des Bürgertums
Modern – aber was heißt das? Andreas Haus stellt das Gesamtwerk Schinkels in eine neue Perspektive
Von Bernhard Schulz
Karl-Friedrich Schinkel ist in Berlin ein Säulenheiliger. Wer immer etwas städtebaulich oder architektonisch meint, zitiert den genialen Baumeister Preußens herbei; zumindest, seit die Epoche Schinkels mit der Rückbesinnung auf die tradierte Stadt in den Achtzigerjahren wieder hoffähig wurde.
Nur – von welchem Schinkel ist die Rede, wenn sein im Munde geführt wird? „In fast jeder Hinsicht wurde Schinkel zu einer künstlerischen Berufungsinstanz für Ideologen der Neuzeit", konstatiert der Berliner Kunsthistoriker Andreas Haus gleich zu Beginn seiner Monographie „Karl Friedrich Schinkel als Künstler", die ein Meilenstein der Rezeptionsgeschichte genannt werden darf. Denn Haus versucht, den preußischen Oberlandesbaudirektor – so seine letzte und höchste Stelle ab 1838 – aus den historisch wechselnden Indienstnahmen zu lösen und auf dem Hintergrund seiner Zeit als Künstler vorzustellen.
Als Künstler: das bedarf der Erläuterung. Denn natürlich war Schinkel Architekt. Aber er verstand sich im Sinne der Romantik als ein „Veredler aller menschlichen Verhältnisse“. Haus macht darauf aufmerksam, dass „der Anteil des Fiktiven, des nur Erdachten oder gar Geträumten in Schinkels Oeuvre trotz seiner immensen praktischen Arbeitsleistung so groß ist wie sonst vor ihm bei kaum einem anderen Architekten.“
Das ist auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Berliner Städtebau Diskussionen – zu denen Haus naturgemäß schweigt – alles andere als ein akademischer Streit. Die Frage der Gestaltung der Berliner Stadtmitte mit ihrem Kernproblem eines Wiederaufbaus des Schlosses ist, so darf man wohl sagen, ohne Konsultation von Schinkel, ja möglicherweise ohne seine regelrechte Einbeziehung überhaupt nicht zureichend zu beantworten. Da geht es nicht nur um die hinlänglich bekannte Tatsache, dass Schinkel die gewaltige Säulenfront seines (Alten) Museums auf das Gegenüber des Schlüterschen Schlosses bezogen hat. Es würde noch angehen, dass diese breit gelagerte Front ohne ihr höfisches Pendant nicht wirklich zu verstehen wäre, beträfe es nur dieses Bauwerk allein. Aber genau das ist eben nicht der Fall. Schinkels Berliner Vermächtnis ist ein so umfassendes, dass das isolierte Herausgreifen des einen oder anderen Aspekts in der Regel, um sich in der Tagesdiskussion entsprechend zu munitionieren, nur der weiteren Verfälschung Vorschub leistet.
Verständnislose Erben
Das ist kein erst die Gegenwart kennzeichnender Umstand. Haus legt dar, wie schnell sich das Verständnis für Schinkels Lebenswerk verbrauchte. Mit seinem Tod nur kurz nach demjenigen König Friedrich Wilhelms III., dessen Regierungszeit sich beinahe taggenau mit seinem Berufsleben deckte, „brach der Damm: in zahlreiche Richtungen, teils ins Gefällig-Bilderbuchartige, teils ins Interessante, teils ins Hausbackene, teils ins Maßstablose zersetzte eine Architektengeneration, die Schinkel herangezogen hatte, das Vermächtnis ihres Lehrmeisters“. Dieses Urteil, so berechtigt im einzelnen, übergeht indessen die denn doch rapide gewandelten Zeiten: Auch in Preußen brach das Industriezeitalter an, wurden die ersten Eisenbahnen verlegt – noch zu Schinkels Lebzeiten –, kamen gänzlich andere Bauaufgaben zum Tragen, als die für ein quantitativ überschaubares Bildungsbürgertum, wie es Schinkels idealer Adressat gewesen war. Der spezifische Historismus Schinkels, diese Synthese von Klassizismus und Neugotik, stand, als sein Genie fehlte, nicht länger zu Gebote.
Das wirft die Frage nach der Modernität Schinkels auf. Sie ist in den vergangenen Jahren entschieden bejaht worden. Als Kronzeuge dient stets die Bauakademie, deren Abriss zu Gunsten des DDR-Außenministeriums 1961/62 nun wahrlich schiere Idiotie darstellte. Immer wieder ist die Bauakademie als Vorbild Bau der bald ganz Preußen überziehenden Nutzarchitektur bezeichnet worden. Haus betrachtet die „Allgemeine Bauschule" indessen differenzierter. Das entsprechende Kapitel zählt zu den spannendsten seines im Ganzen ungemein anregenden Buches. Das Gebäude, so Haus, bedeute den „Höhepunkt des Schinkelschen Prinzips, die Logik der Konstruktion in die Sprache der Dekoration zu übertragen", war doch das Gebäude mit einem diffizilen skulpturalen Bildprogramm geschmückt.
Die Sprengkraft dieser Beobachtung ist gar nicht zu überschätzen. Denn unseren heutigen Augen ist – nicht nur, weil im Falle der Bauakademie der konkrete Gegenstand abhanden gekommen ist – das Dekorative als unveräußerlicher Bestandteil der Schinkelschen Architektur gänzlich fremd geworden. Die technischen Bauweisen selbst, schreibt Haus, „sind nicht einmal für Berlin als Neuerung zu bewerten, geschweige denn für jene Länder, in denen das Bauen tatsächlich in die Richtung des Industriebaus fortgetrieben wurde". Es geht vielmehr um die „symbolisch-programmatische" Wahl, für einen repräsentativen Staatsbau das schlichte Material des Backsteins in eben dieser repetetiven Konstruktion zu wählen, die ihn der klassischen Moderne geradezu als einen Gründungsbau des 20. Jahrhunderts erscheinen lassen sollte.
In dieser Entscheidung Schinkels liegt indessen seine städtebauliche Konzeption paradigmatisch beschlossen. Die Bauakademie ist ein dezidiert bürgerliches Gebäude. Auch das Alte Museum ist ein entschieden bürgerliches, nämlich das Humboldtsche Bildungsideal verkörperndes Gebäude. Dazu kommen aber weitere Bauten Schinkels, die heute nur noch Kennern geläufig sind, vor allem dem so genannte „Packhof" auf der Nordspitze der heutigen Museumsinsel entlang des Kupfergrabens, wenn man so will, ein ganz gewöhnliches Lagerhaus, eben darin also ein Zeugnis bürgerlichen Gewerbefleißes. – Dass Schinkel die Kellergewölbe des Alten Museums gleichfalls als Lagerräume zu vermieten vorschlug, um daraus einen Teil der Unterhaltskosten des Museums zu decken, ist in diesem Zusammenhang weit mehr als ein hübsches Aperçu.
Ein Sohn der Spätaufklärung
Der Packhof verschwand – allerdings auch auf Grund baulicher Mängel – bereits im 19. Jahrhundert wieder, nachdem der neue König 1841 „die ganze Spree-Insel hinter dem Museum zu einer Freistätte für Kunst und Wissenschaft umzuschaffen" angeordnet hatte. Was seither als Verbeugung vor dem preußischen Bildungsideal verstanden wird, griff doch in die Mitte der Stadtplanung Schinkels ein, der „die Ufer des ganzen Spreearms mit Musterbauten seiner modernen Kulturplanung" besetzte, durch „institutionelle Bauten bürgerlicher Kulturarbeit im weitesten Sinne".
Mag sein, dass Haus hier etwas übers Ziel hinaus zu schießen droht. Denn so wenig zimperlich Schinkel – wie alle großen Architekten – gelegentlich mit dem vorgefundenen baulichen Erbe umging, so wenig zielte er doch auf eine radikale Neugestaltung der Stadt. Solcher Radikalismus blieb den Visionären des 20. Jahrhunderts vorbehalten, die gewachsene Strukturen rücksichtslos bekämpften. Schinkels Forderung des „Neuen", mit den Augen des 20. Jahrhunderts gelesen, ist missverständlich: Tatsächlich zielt sie auf eine Synthese aus antiker und christlicher Zeit, also aus klassischer Antike und Gotik „als schöpferisches Resultat einer je spezifischen Mischung historischer Traditionen". Das ist es, was Schinkel mit seinem berühmten Postulat meinte, „historisch Handeln ist das, welches das Neue herbeiführt und wodurch die Geschichte fortgesetzt wird".
Schinkel blieb „ein Sohn der Spätaufklärung", wie Mario Alexander Zadow ihn in seiner Studie über den Bildungsgang aus bescheiden Anfängen nennt – den Visionär einer im besten Sinne geglückten, auf Bildung und Humanität gegründeten Bürgerlichkeit. Wo Haus das ästhetische Programm Schinkels im Visier hat, liefert Zadow das biografische Feingeflecht, vor allem in seinen Beziehungen zu den Dichtern und Philosophen der Romantik. Die Frühzeit, die von den flüchtigen Arbeiten als Dekorationsmaler bestimmt war, gewinnt bei Zadow als eine Zeit der geistigen Formung und Festigung Kontur. Man wird Zadows Biografie mit Gewinn dort benutzen, wo bei Haus über die einsichtsvolle Durchdringung der ästhetischen und kulturpolitischen Zielsetzungen Schinkels hinaus das Bedürfnis besteht, den eigentümlichen Ton der Zeit in den zahlreich zitierten Schreiben und Briefstellen zu vernehmen.
Neuerer oder doch – allein schon amtsbedingt – eher Zögerer, den Abriss des Schlüter-Schlosses hätte Schinkel gewiss nicht befürwortet. Um den Zentralbau Preußens allerdings zentrierte sich seine Stadtplanung für Berlin. Über die Modernität Schinkels heute zu sprechen, kann nicht die Beschränkung auf konstruktive Neuerungen bedeuten, wie dies in den zurückliegenden Jahren meist der Fall war. Mit dem gedankenreichen Buch von Andreas Haus tritt Schinkel als ein Architekt vor Augen, der sich als Künstler in dem umfassenden Sinn verstand, „den sittlichen Fortschritt im Menschen zu fördern und dafür immer neue Wendungen erfindet", wie er bereits 1810 formulierte. Nur in diesem Licht sind Schinkels bauliche und planerische Leistungen zumal für Berlin zu verstehen – und, anders als so oft in der Vergangenheit, hoffentlich auch zu würdigen.
Andreas Haus: Karl Friedrich Schinkel als Künstler. Deutscher Kunstverlag, München 2001. 440 Seiten, 413 Abb., 75 €
Mario Alexander Zadow: Karl Friedrich Schinkel. Leben und Werk. Edition Axel Menges, Stuttgart 2002. 255 Seiten, 96 Abb., 68 €
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