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Volksbühne nimmt Abschied von Carl Hegemann: Trauerfeier heißt Powerfeier
Ein Abend für eine Theaterlegende: Schauspieler und Musiker erinnern an Carl Hegemann, den Dramaturgen und Denker der Volksbühne.
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Die Flaggen mit dem Räuberrad hängen auf Halbmast. Die Volksbühne trauert. Am 9. Mai ist Carl Hegemann gestorben, ihr langjähriger Dramaturg, Probenphilosoph, geistiger Motor, Stimmungsmacher. Er wurde 76 Jahre alt. Das Bedeutende an ihm war auch, dass man seine Rolle an diesem einzigartigen Theater eigentlich nicht festlegen konnte.
Abschiedsfeier auf der großen Bühne, volles Haus bei herrlichem Sommerwetter: Wenn die Volksbühne trauert, wächst eine sehr besondere Energie. Wie Carl Hegemann es ausgedrückt hat: „Erobert euer Grab!“
Die Volksbühne ist Heimat. Emotional, intellektuell, eine Frage der Ideologie. Es gibt einen Publikumskern, der sehr verzeihend, aber auch sehr nachtragend sein kann. Diese Heimat liegt zwischen vergangenen Jahren von Glanz und Gloria, Donner und Doria, und wird als Utopie verstanden. „Everyday Live“, so haben sie das bunte Programm für Carl genannt. Trauer an der Volksbühne heißt – Power!
Heimat im Theater
Ohrenbetäubender Lärm zu Beginn: Eine Band spielt „When the Music’s Over“ von den Doors. Silvia Rieger, Ensemblemitglied seit Ewigkeiten, schreit sich die Seele aus dem Leib. Ein Model zeigt avanciertes Pole Dancing. Kolleginnen und Kollegen erweisen Carl die letzte Ehre. Immer frontal. Auftritt Oldie-Chor des 1. FC Union. „In der alten Försterei ...“: Es wird mitgeklatscht und mitgesungen. „Wir sind Union“, der Heimatverein: Vielleicht täuscht es, aber Union und Volksbühne wollen das Beste vom Osten vereinen, Nostalgie und Zukunftsmusik.
Und Filme natürlich: Frank Castorfs „Idiot“ von 2002 mit Sophie Rois, Herbert Fritsch, Sir Henry, jung und ungebremst. Und dann Carl Hegemann mit Christoph Schlingensief auf der Autobahn. Chaos, gute Laune. Unterwegs für die Schlingensief-Partei „Chance 2000“. Action am Wolfgangsee. Carl mittendrin, mit seinem Lächeln. Wer diese irre Zeit nicht erlebt hat, hat etwas verpasst. Wenn man dabei war, fragt man sich, ob das alles (und man selbst) gut gealtert ist.
Schlingensief starb im Sommer 2010, mit nicht einmal 50 Jahren. Und wenn einer sein Grab erobert hat, dann war er es. Kathrin Angerer tritt vor. Sie erinnert an den Volksbühnen-Slogan „Gebt mir ein Leitbild!“ Wozu brauchte diese irre Familie eine Anleitung? Volksbühnen-Dialektik. Alexander Scheer bringt inbrünstig David Bowies „Ashes to Ashes“, mit einem Beckett-Zitat, das nach Heiner Müller klingt oder umgekehrt?
Der Kopf schwirrt, ein Freund singt „Keep On Rocking in the Free World“ von Neil Young. Ja, immer weiter. Carl ist da. Eine Mitbewohnerin aus der Bötzowstraße spricht mit ihm am Telefon im Himmel. Und bittet um eine Schweigeminute. Absolute Stille im Zuschauerraum, in diesem Theater! Ein unwahrscheinlicher, kostbarer Moment.
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