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Jugendroman: Vollkommener als Musik
„Still!“: Dirk Popes intelligenter Roman über ein Mädchen, das sich zum Schweigen entschließt.
Stand:
Menschen gebrauchen im Durchschnitt über 15 000 Wörter am Tag. Meine Mutter kommt bestimmt auf das Doppelte. Man nennt das auch Logorrhö, krankhafte Geschwätzigkeit. … Ich halte es einfach nicht mehr aus.“ Mariella ist konsequent. Sie sagt nichts mehr. Kein Wort. Seit ihre Eltern sich getrennt haben und sie mit ihrer Mutter in diese öde Kleinstadt Unter-Ober gezogen ist, schweigt sie. Gar nicht so einfach, das durchzuhalten.
Dirk Pope erzählt in seinem Roman „Still!“ [Carl Hanser Verlag, München 2020. 190 Seiten. 15 €. Ab 14 Jahre] die ungewöhnliche Geschichte eines eigenwilligen Mädchens. Mariella sagt zwar nichts, erzählt aber göttlich. Etwa, wenn die Mutter mit ihr zum Hausarzt geht: „Aber Ärzte, die sich primär um Häuser kümmern, sind mir die liebsten, denn wenn man mit Häusern spricht, bekommt man in der Regel auch keine Antwort. Hausarzt. Häuserarzt. Reihenhausarzt. Hochhausarzt. Natürlich ist das Quatsch …“, sinniert sie – und der Arzt versteht sie. Mariella ist klug, gut in Deutsch, aber sie findet, dass die Welt voller überflüssigem Geschwätz ist. Pope lässt sie über Sprache und Bedeutung philosophieren, dass es eine Freude ist. Er zwingt den Leser, über sein Verhalten nachzudenken, über Worte, Wörter und Werte.
„Wer nicht redet, hat nichts zu sagen. … Vielleicht ist es mir einfach nur zuwider, zu reden, ohne etwas zu sagen.“ Dieses Verhalten eckt an, provoziert Mariellas Umfeld. Nur von wenigen fühlt sie sich verstanden. Etwa von dem estnischen Komponisten Arvo Pärt, von dem sie liest: „Die Stille ist immer vollkommener als die Musik. Man muss nur lernen, das zu hören.“
Wenn Bürste, Arzt und Regal sich unterhalten
Pope streut in seine Erzählung häufig absurde Dialoge ein, etwa zwischen Mariella und dem IfaS, dem Institut für angewandtes Schweigen. Dieses versucht herauszufinden, warum Mariella so konsequent schweigt. Es kann aber auch ein Gespräch zwischen der Socke, dem Regal, der Hose, der Bürste und dem Arzt sein, der fragt: „Diese Mariella, ist sie denn normal?“
Dann trifft Mariella Stan auf dem KuLa, dem Kurzen Langen, einem Aussichtsturm. Es funkt zwischen beiden, denn Stan sagt auch nichts. Sie verstehen sich. Der Grund für sein Schweigen: Er ist taub, kommuniziert mit Gebärdensprache. Beide tauschen sich jetzt über Whatsapp aus. Als Stan verschwindet und Mariellas Handy wegkommt, mündet alles in einer Katastrophe. Mariella muss nun ihr Schweigen brechen. Der Preis ist hoch, der Schock sitzt tief. Mehr wird nicht verraten. Pope hat einen beeindruckend guten Roman geschrieben. Kein Wort ist darin zu viel.
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