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Ostergeschichte: Von einem, der aufstand

Gottesnarr, Asket, Revolutionär: Symeon, der Säulenheilige, verharrte 37 Jahre auf einem Fleck. Eine syrische Ostergeschichte.

Aus Aleppo, einer der ältesten Städte der Welt, lassen sich viele Geschichten erzählen. Von Abraham, der hier, auf dem Weg nach Kanaan, sein Vieh weidete. Von Römern und Kreuzrittern, islamischen Gelehrten und Mystikern, Kalligrafen und Musikern. Geschichten von der zyklopischen Zitadelle und von T. E. Lawrence, der hier im legendären Hotel Baron abstieg, wo man sich heute kaum mehr traut, einen Drink zu bestellen, so zerschlissen ist das Mobiliar, so klapprig das Personal, so abgesunken der Mythos. Geschichten von Tell Halaf und seinen Göttern, die im Berliner Pergamonmuseum wiederbelebt worden sind, und von der deutschen Fliegerin Marga von Etzdorf, deren junges Leben im Jahre 1933 auf dem Flugplatz von Aleppo endete und der Uwe Timm mit seinem Roman „Halbschatten“ ein zartes Epitaph gesetzt hat.

Die Geschichte von Symeon, dem Säulenheiligen, gehört gleichfalls – gemessen an der 6000-jährigen Geschichte Aleppos – zu den neueren Kapiteln. Sie spielt etwas außerhalb dieser wundersamen Stadt im Norden Syriens. Symeon konnte nicht fliegen, aber er konnte auch nicht auf dem Boden bleiben.

Im Anfang war die Säule, auf die er sich zurückzog, drei Meter hoch. Nach und nach wurde sie auf 17 Meter aufgestockt, um die Massen von Pilgern und Ratsuchenden von dem Heiligen abzuhalten. Zwischen Himmel und Erde, auf einer vier Quadratmeter großen Plattform, verbrachte er 37 Jahre – in der sengenden Sonne, in den eiskalten Nächten einer wüstenhaften Hügellandschaft.

Er lebte von 389 bis 459 n. Chr., und die Biografen und Legendenerzähler sind sich in den wesentlichen Punkten einig: Symeon, ein syrischer Bauernsohn, sprengte soziale und familiäre Strukturen, er kannte keine Grenze. Klösterliche Askese war ihm nicht genug. Er hat, bevor er auf die Säule stieg, nach immer härteren Geißelungen gesucht, wie die Sadhus in Indien, hat sich einmauern und eingraben lassen, mit einem Strick seinen Oberkörper stranguliert, bis er nur noch Eiter, Blut und Knochen war. Die Klosterbrüder pflegten ihn gesund und warfen den Störenfried aus ihrer Gemeinschaft. Seine selbstmörderischen Exzesse, seine orgiastische Nachahmung der Leiden Christi gingen über jedes Verständnis, jede Regel hinaus. So wurde er Symeon Stylites der Ältere. Viele folgten seinem Beispiel.

Von Aleppo ist es eine einstündige Autofahrt nach Qalaat Seman. Unser Besuch an dem Ort, wo Symeon auf seiner Säule stand und wirkte, liegt nicht einmal drei Monate zurück: ein strahlend blauer Januartag, dessen Ruhe und Frieden jetzt unheimlich wirken. Haben wir etwas übersehen, irgendein Zeichen, das auf die unmittelbar bevorstehenden Eruptionen des arabischen Frühlings hingedeutet hätte? Die Zeit der Erhebung, des Aufstehens ist in Syrien von friedlichen Demonstrationen und mörderischen Reaktionen der sogenannten Sicherheitskräfte gekennzeichnet. Das Assad-Regime verspricht Reformen und lässt auf wehrlose Menschen schießen. In ihrer Unerschrockenheit scheint – über historische Ewigkeiten hinweg – die Radikalität des Eremitentums auf, das in Syrien und in der Gestalt Symeons einst seinen höchsten Ausdruck fand.

Es berührt den Kern der Ostergeschichte, die in der Bibel mit der provokanten Auferweckung des Lazarus eingeläutet wird. Es ist ein politischer Vorgang. Etwas Unvorhergesehenes und nie Gesehenes geschieht. Ein Wunder, dessen Folgen und Bedeutung nicht abzusehen sind. Es war da zunächst auch ein Schrecken, der von Symeon ausging, ein ungläubiges Staunen. Wir kennen das Gefühl: Was passiert mit den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wohin führt das unstillbare Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmung? In Homs, der drittgrößten Stadt Syriens, versammeln sich jetzt tausende Bürger auf einem zentralen Platz, den sie in „Tahrir“ unbenannt haben. Sie harren dort aus, in größter Gefahr. Darin liegt das Revolutionäre, von der Beharrlichkeit geht die Umwälzung aus.

So ging es auch den Menschen, die von dem Mann auf der Säule hörten. Seine Unbedingtheit flößte ihnen Furcht ein. Dann aber kamen sie, aus der Umgebung und von fern, aus dem gesamten Römischen Reich, eine unaufhaltsame Bewegung, ein endloser Strom von Gläubigen, Bekehrungswilligen, Schaulustigen, Händlern. Symeon erteilte Ratschläge, schlichtete Streitfälle, er war ein geduldiger Zuhörer. Es wird berichtet, dass ein Kaiser aus Byzanz Hilfe suchend zu ihm auf die Säule kletterte. Ein religiöser Jahrmarkt baute sich auf dem Hügel auf. Frauen ließ er nicht heran. Der unmittelbare Umkreis der Säule galt als Klosterbereich.

„Symeon der Stylit lebte in alarmierten Zeiten“, schreibt Hugo Ball, der Dadaist, der für das „Byzantinische Christentum“ entflammte. „Wer sich in des Styliten Augen versenkt, vergisst Freundschaft und Hass. Um seinen Berg gelagert, schließen die Völker Bündnisse ab. Er ist der beständige Wachtraum, die Wunderuhr Gottes. Der Erdkreis pilgert zu ihm.“ Symeon vermittelte zwischen den Beduinenstämmen und den christlichen Beamten, ließ Nahrung an Arme verteilen, erwirkte die Freilassung von Sklaven. Arabische Diktatoren hätten so einen längst von der Säule heruntergeholt, gefoltert, ermordet. Die byzantinischen Machthaber, die wie der Assad-Clan über eine multiethnische Bevölkerung herrschten, wählten einen anderen Weg. Sie errichteten über der Säule des Heiligen eine gewaltige Basilika, eines der größten christlichen Bauwerke. Es war Zentrum der auch nach seinem Tod ungebrochenen Symeon-Verehrung und für tausende Pilger ausgelegt. So bedeckten schiere Pracht und Massivität einen Ort, der ursprünglich bedingungsloser Askese gewidmet war.

Ein Sinnbild für Religion schlechthin: Das Materielle überwölbt das Spirituelle. Die Erinnerung versteinert, der Kult baut sich ein Haus. Es überragt die Plattform des Säulenheiligen um ein Vielfaches und wird zum neuen Symbol. Auf Golgatha wurde die Grabeskirche gebaut; bei den Griechisch-Orthodoxen heißt sie Auferstehungskirche. Kreuz und Säule haben eine verwandte Geometrie.

Der deutsche Wissenschaftler Theodor Nöldeke erzählt in seinen „Orientalischen Skizzen“, erschienen 1892 in Berlin, die folgende Begebenheit: „Ein überspannter Diacon Vulfilaicus machte sich etwa in der Mitte des 6. Jahrhunderts in der Gegend von Trier auch eine solche Säule zurecht. Allein die Bischöfe geboten ihm herabzusteigen, denn mit dem hl. Simeon könne er es doch nicht aufnehmen, und sein eigener Bischof ließ dann in seiner Abwesenheit die Säule kurz und klein schlagen.“ Viele ahmten sein Beispiel nach, aber Symeon blieb unerreicht.

Heute geht man in Qalaat Seman staunend durch Ruinen und genießt eine Einsamkeit, wie sie der umlagerte Heilige vor über anderthalb Jahrtausenden nicht erlebt hat. Eine erhabene Stille und Einsamkeit, die nachher einen bitteren Geschmack bekommt, nach Friedhofsruhe. Die immer noch imposanten Torbögen gewähren entrückte Blicke in eine Landschaft, man möchte sie biblisch nennen.

Nur ein dicker Stumpf ist von Symeons Säule geblieben, eine von Erdbeben, Erosion und menschlichem Zerstörungswerk geschaffene Zufallsskulptur. Sie erinnert an ein Shiva-Linga, das Phallussymbol der hinduistischen Götterwelt. Eine seltsame, versöhnliche Assoziation angesichts eines Eremiten, der Himmel und Erde in Bewegung setzte, um sein Fleisch abzutöten. In einem libanesischen Kloster wird eine Ikone aus dem späten 17. Jahrhundert aufbewahrt, die Symeon den Älteren und Symeon den Jüngeren zeigt, umgeben von Kranken, Fabelwesen und anderen Heiligen. Über den Eremiten thront Christus, er reicht den Säulenheiligen arabische Schriftrollen. Die Säulen, auf denen die bärtigen Männer mit ihren Aureolen stehen, haben die schlanke Form von Minaretten. Symeon, der exponierte Christusnarr, soll bei den arabischen Nomaden große Beliebtheit genossen haben.

Ein fernes Echo auf solche Glaubensgrenzen überschreitenden Geist gibt heute noch die Altstadt von Aleppo. Dort stehen christliche Kirchen jeglicher Couleur, griechische, armenische, syrische, in unmittelbarer Nachbarschaft von Moscheen. Es ist ein buntes Gemisch, und mit wenig Fantasie auch ein explosives.

Das verrückteste Wunder, das von Symeon berichtet wird, ist die Heilung einer Schlange. Ein Schlangenmännchen kommt zur Säule, um Hilfe für sein Schlangenweibchen zu erbitten, das an einem fürchterlichen Abszess litt. Unter den Augen der entsetzten Pilger wird die Schlange mit geweihter Erde von ihren Qualen befreit. „Reicht des Styliten Bußgewalt bis zum Geheimnis der Erbsünde hin?“, fragte sich Hugo Ball.

Die Versuchung schläft nie, sie wird von Eremiten und Asketen magisch angezogen. Auch Symeon und Satan lieferten sich einen zähen Ringkampf. Wie das zugehen kann, erzählt Luis Buñuel in seinem 1965 in Mexiko entstandenen Film „Simón del desierto“ (Simon in der Wüste). Der Heilige steigt zu der schönen Teufelin herab, und sie gehen tanzen. Auch Buñuel ging der Atem aus. Der Schwarz-Weiß-Film dauert nur knapp eine Stunde, die Dreharbeiten wurden wegen Geldmangels abgebrochen.

Der historische Stylit wirkte lange über den Tod hinaus. Seine sterblichen, unsterblichen Überreste wurden in einer feierlichen Prozession nach Antiochia gebracht, wo Tausende ihn empfingen. Viele Städte des Reichs wollten den Leichnam in ihren Mauern haben, zum Schutz gegen Feinde. Er zeigte keine Spuren von Verwesung, byzantinische Kaiser und Feldherrn schrieben ihm im Krieg Wunderkräfte zu.

Symeon, der Unerschütterliche. Gegen widrigste Einflüsse probte er das Stehenbleiben, das Beharren. Die Auferstehung, den Aufstand. Er diente seinem Gott mit einer Radikalität, die man blasphemisch nennen könnte. In ihm wühlte eine rebellische Kraft, die sich an sich selbst berauschte. Er zwang seinem Körper ein anhaltendes Fanal ab. Er stand still und bewegte die Welt.

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