Kultur: Von Ratten und Menschen
"Subúrbio" unter Kresniks Regie in Hamburg uraufgeführtVON ULRIKE KAHLEZweihundert Ratten laufen, hüpfen, dösen, verknäulen sich in durchsichtigen Röhren.Mit seiner Ausstatterin Penelope Wehrli entwarf Johann Kresnik den Ausgestoßenen, Alten, Arbeitslosen, kleinen Gangstern aus "Subúrbio" ein betörend schönes Niemandsland, mit schräg gespannten Rattenröhren in der Luft, mit glitzernden Plastikflaschen am Bühnenboden.
"Subúrbio" unter Kresniks Regie in Hamburg uraufgeführtVON ULRIKE KAHLEZweihundert Ratten laufen, hüpfen, dösen, verknäulen sich in durchsichtigen Röhren.Mit seiner Ausstatterin Penelope Wehrli entwarf Johann Kresnik den Ausgestoßenen, Alten, Arbeitslosen, kleinen Gangstern aus "Subúrbio" ein betörend schönes Niemandsland, mit schräg gespannten Rattenröhren in der Luft, mit glitzernden Plastikflaschen am Bühnenboden.Endzeit, heute.Aus einem Roman des jungen brasilianischen Autors Fernando Bonassi wurde eine Kresnik-Inszenierung, gemeinsam mit Bonassi erarbeitet, in abstrakten, stilisierten Bildern: mit 7 Schauspielerin, 3 Tänzern, einem fünfzehnjährigen Mädchen, einem Harmonikaspieler, den 200 Ratten und einem Hahn. Vorsicht: Kinder und Tiere auf der Bühne! Doch Kresnik, der alte Wüterich, der Hexenmeister der Provokation, schaffte es, das Hamburger Premierenpublikum zu schockieren und in überzeugenden Bildern eine ziemlich schwierige, schmutzige kleine Geschichte zu erzählen, überlagert von wehmütigen Harmonikaklängen: Alter Mann und junges Mädchen freunden sich an, inmitten von totaler Stagnation und Hoffnungslosigkeit.Die unmögliche Liebe endet mit Mord und Lynchjustiz.Es stinkt im Deutschen Schauspielhaus, denn die Slumbewohner schlachten, kochen, braten ihre einzige Nahrung: Ratten.Die am linken Bühnenrand aneinandergereihten Küchenherde, Symbol trister Häuslichkeit, funktionieren.Alles ist öffentlich, Kochen, Streiten, Duschen, auch die Liebe oder was davon übrig blieb.Die höllisch attraktive Nachbarin (Cathrin Striebeck) sucht Liebe bei dem Transvestiten (Siegfried Terpoorten), sucht überall, vergebens.Ihr alter kranker Ehemann (Jürgen Stössinger) trägt einen Kotbeutel am Bauch, redet von Revolution und himmlischer Vergebung.Der Alte (glaubhaft heruntergekommen: Werner Rehm) und die Alte (phänomenal böse, zickig, resigniert: Lore Stefanek) leben abgestumpft nebeneinander her, mit jäh aufflackernden Reminiszenzen an ihren hoffnungsvolleren Ehe-Beginn.Es geht um Hoffnung, Phantasie, Liebessehnsucht.Und erstaunlicherweise ist dies auch ein Stück über alte Leute, mit ihren scheußlichen Krankheiten, banalen Leiden - identifizieren mag man sich mit keinem, nicht mit dem säuselnden Gangster, dem scheinheiligen Prediger, nicht mit dem jungen Mädchen (frisch, beherzt: Gunda Züllich), nicht mit dem Alten."Mit einem Mann kann man viel machen!" bietet er seine Dienste dem Gangsterboß in einer Szene an, die Kresnik zu einer pervertierten Liebesszene macht, Fazit: der Alte ist Müll, Scheiße, nutzlos. Kresnik gelingen kraftvoll überhöhte Bilder, wie der Deckentanz, wenn alle in ihren Decken stampfen, sich einhüllen, sie schwenken wie Mantillas, schöne Bilder, wenn die Slumbewohner umhüllt von Flaschen als Flaschenmonster auf die Bühne kriechen, poetische Bilder um das ungleiche Paar, surreale Bilder, wenn das Mädchen mit zwei märchenhaft-verrückten, halbtierischen Gestalten wie Dorothy im "Zauberer von Oz" auftritt, zu einem grausig sirrenden mechanischen Ton (Musik Livio Tragtenberg), und der verlegene Alte das normalste, banalste Geschwätz absondert.Ein Alptraum.Kräftiger Beifall für die Schauspieler, kräftige Buhs für den Regisseur.Wieder hat das Hamburger Schauspielhaus den Blick auf die Obdach- und Arbeitslosen, die Überflüssigen gelenkt, die immer mehr werden.Ein entschiedenes Plädoyer für politisches Theater, eine Auforderung zum Hinsehen, Weiterdenken, ganz schön unbehaglich, nicht leicht zu verdauen.Kresnik was here, voll sanfter Wut.Für den Transport dieser Inszenierung an Castorfs Volksbühne fehlen die finanziellen Mittel.Das nächste Kresnik-Thema könnte das Theaterendspiel sein.
ULRIKE KAHLE