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Risiko ja, aber nur mit Absicherung. Ein Sprung, wie ihn sich Simon Strauß’ Ich-Erzähler vorstellt.

© Wulf Pfeiffer/picture-alliance/ dpa

Roman "Sieben Nächte": Vulkan sein oder Aschenbecher

Eine Generation auf der Suche nach sich selbst: Simon Strauß begegnet in seinem ersten Buch „Sieben Nächte“ allen Todsünden.

Von Gregor Dotzauer

Manche Lebensweisheiten flehen so sehr um Zustimmung, dass sie darüber schnell in die Knie gehen. Zum Beispiel: Radikalität ist das Privileg der Jugend. Leuchtet ein. Lässt sich empirisch untermauern. Und ist wenig belastbar. Denn Radikalität ist auch die Chance des Alters. Man muss nicht Margarete Mitscherlichs Buch zum Thema gelesen haben, um sich davon zu überzeugen, wie sehr die Aussicht, nur noch das eigene Leben verlieren zu können, mitunter Mut und Klarsicht steigert. Oder: Unbelehrbarkeit macht das Draufgängertum der jungen Jahre aus. Ist Starrsinn nicht ein Fluch der späten? Auch die Behauptung, dass man mit zunehmendem Alter gelassener wird, hält keiner allgemeinen Überprüfung stand. Die leisen und die lauten Verzweiflungen nisten sich mit ihren Botenstoffen in jeder Phase auf ihre Weise ein.

Es spricht von daher einiges dafür, Haltungsfragen und die damit verbundenen Affekte möglichst altersunabhängig zu betrachten und kühle Begriffsklärung zu betreiben: Was ist Radikalität? Was ist Mut? Was ist Verausgabung? Der Haken besteht darin, dass jeder Generation solche Fragen einerseits zum ersten Mal zustoßen, sie andererseits im Blick auf vorangegangene Generationen in einen Wiederholungstunnel gerät, der geradewegs in den Koller führen kann. In genau dieser Situation befindet sich Simon Strauß, ein junger Mann, der schon fürchtet, erloschen zu sein, bevor er einmal gebrannt hat. In seinem ersten Buch „Sieben Nächte“ geht er deshalb einen Pakt mit dem Teufel ein. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt soll er den sieben Todsünden begegnen, auf dass er sich mit den Exzessen von wenigstens einer unter ihnen wohlfühle. Einzige Geschäftsbedingung: Am Ende der Nacht soll er einen Text abliefern, in dem er über seine Erlebnisse Rechenschaft ablegt.

Strauß, 1988 in Berlin geboren, Sohn von Botho Strauß, ist eine der größten feuilletonistischen Begabungen seiner Generation, und so bildstark und imaginativ er hier schreibt, hat er ein genuin literarisches Talent. Doch ist schon zweifelhaft, ob es sich bei seinem Ich-Erzähler um eine Kunstfigur handelt, oder ob Strauß selbst sich mit Haut und Haaren investiert? Von den beiden Horrorfantasien, die ihn plagen, hat er sich als Theaterredakteur der „FAZ“ zumindest eine schon erfüllt: die Festanstellung. Vor der anderen, dem Gefängnis der Ehe mit Kinderzimmertrakt, drückt er sich noch. Das Leben wird auch in dieser Hinsicht mit ihm unnachsichtig sein. Bewusst damit zu spielen, wo Fantasie und Wirklichkeit sich berühren, ist in diesem Fall aber Koketterie – und als solche das Gegenteil dessen, was der Text fordert.

Gesinnungsfronten in Fragen der Moral

„Ich sehne mich nach Streit“ war das Bekenntnis überschrieben, das der mittlerweile promovierte Althistoriker am 14. Dezember 2014 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ ablegte, und bis in einzelne Formulierungen hinein zur Keimzelle des Buches wurde. Streit „nach Gesinnungsfronten in Fragen der Moral, nach zornigen Gegensätzen in politischer Anschauung. Damit der Sprung in die Schützengräben des Geistes wieder lohnt, man sich mit scharfer Argumentation wappnen muss gegen den Angriff der anderen Überzeugung.“

Was Strauß dabei mehr als jede andere Todsünde quält, ist der Neid: „Wahrscheinlich sind wir zu wenig vom Teufel besessen. Wahrscheinlich fehlt uns, was früher das Mantra der Jugend war: die Wut“. Eine Begierde „nach Ernst“ und eine „Sehnsucht nach wilderem Denken“ verschlingen ihn. „Neid heißt bei mir also vor allem: die Jahre zählen. Rechnen, wie viel Abstand schon ist, welcher Spielraum noch bleibt. Heißt: Einmal Rimbaud sein wollen. Einmal leben ohne Einstweh.“ Aber als „Sympathiesüchtiger“ muss er auch gestehen: „Ich habe Sehnsucht nach Gemeinschaft, weil es zum Einzelgänger nicht reicht.“

Genau darin steckt das Dilemma des gerne im Wir für seine Generation sprechenden Autors, der von sich als Vulkan träumt, aber immer wieder von der Erkenntnis eingeholt wird, ein bloßer Aschenbecher zu sein. Das Überrolltwerden des Einzelnen von der täglich wachsenden Kunstlawine, die der Soziologe Georg Simmel die „Tragödie der Kultur“ genannt hat, trifft auf einen fatalen Mangel an persönlicher Risikobereitschaft. Was für ein lähmendes Warten, von einer großen Idee berührt zu werden. Was für eine Dringlichkeit, eine Dringlichkeit zu spüren, die nicht näher rücken will, wo es einen Kierkegaardschen Sprung bräuchte, um von einer Existenzweise in die andere zu gelangen, kein angeleintes Bungee-Abenteuer mit der Einsicht: "Der Hochmut kommt nach dem Fall.“

Kubricks "Eyes Wide Shut" als Inspiration

Risiko ja, aber nur mit Absicherung. Ein Sprung, wie ihn sich Simon Strauß’ Ich-Erzähler vorstellt.
Risiko ja, aber nur mit Absicherung. Ein Sprung, wie ihn sich Simon Strauß’ Ich-Erzähler vorstellt.

© Wulf Pfeiffer/picture-alliance/ dpa

Das Wissen um die Vermitteltheit vieler Erfahrungen, zu der im Fall des klugen Simon Strauß die Fähigkeit kommt, sie mit Werken zu illustrieren, die einem die Vision von Größe eingegeben haben, führt bei der Wollust dann aber nur zu einem Abklatsch von Stanley Kubricks Maskenball aus „Eyes Wide Shut“, einer Wohlfühl-Libertinage mit Burlesque-Tänzerin, während an jeder Ecke dreckigere und billigere Erfahrungen warten, von den Glanzlosigkeiten der Swinger-Szene bis zum Elend des Drogenstrichs.

Die Wahrheit liegt gewiss nicht in der Gosse. Trotzdem fängt sie erst da an, wo sie kein Selbsterfahrungstrip im Red-Bull-Modus ist, sondern ihre schäbigen, verzehrenden Seiten zeigt. Alle Exzesse bleiben hier in ein mildes Licht getaucht: die Provokation des Edelfleischessens in veganen Zeiten, der Wetteinsatz auf der Trabrennbahn.

Vielleicht braucht man eine andere Art von Fantasie oder schlicht einen durchdringenderen Blick, um gestalten zu können, wie andere schon in jungen Jahren für immer unter die Räder kommen: von der Faulheit für immer paralysiert, vom Neid zerfressen, von der Völlerei aufgedunsen, vom Hochmut aus der Bahn geworfen, von der Wollust besessen, von der Habgier zerrüttet und vom Jähzorn zerrissen. So bleibt dieser nächtliche Todsündenparcours ein Minigolfnachmittag, wobei man Strauß zugutehalten muss, dass er sich in der Harmlosigkeit seiner Ausschweifungen durchaus selbstironisch erkennt. Für diese Ironie gilt aber dasselbe wie für die Koketterie. Er verabscheut sie und gibt ihr dennoch nach.

„Sieben Sünden“ ist das Buch einer Scheu, der Scheu vor extremen Gefühlen, der Scheu vor extremen Ansichten, der Scheu, vom eigenen Furor weggerissen zu werden. Man kann sich nicht wünschen, Arthur Rimbaud zu sein, ohne bereit zu sein, ihm eine Saison lang in die Hölle zu folgen. Auch ist nirgends von Politik die Rede, ja der ganze Raum des Sozialen bleibt nahezu ausgespart. Aber was will man von einem Teufel erwarten, der bestenfalls ein Aushilfs-Luzifer ist, ein entspannter Kerl, der dem „lieben S“ am Ende sogar einen Brief schreibt, in dem er ihm das eine oder andere gemeinsame Glas in Aussicht stellt, statt eine strebende Seele zu kassieren? Außerhalb des Buches hat T, der Teufel, sogar einen richtigen Namen. Er heißt Tom Müller, ist nur sechs Jahre älter als Strauß und arbeitet als Lektor im Blumenbar Verlag. Er hat ihm die Versuchsanordnung vorgegeben. Insofern ist dieses Buch, das von inneren Notwendigkeiten spricht, ganz äußeren Bedingungen geschuldet.

Hass bei Goetz, Verachtung bei Brinkmann

Man muss nicht weit in der deutschen Literatur zurückgehen, um bei Rainald Goetz unverdünnte Hasstiraden zu entdecken oder bei Rolf Dieter Brinkmann eine Sprache der Verachtung. Gegen sie nimmt sich Strauß’ Sticheln gegen einen Superdaddy auf der Trabrennbahn wie eine matte Glosse über Prenzlauer-Berg-Mütter aus. Das Seltsame ist, dass Strauß seine Bezugsgrößen bei modernen Klassikern sucht, die noch viel fordernder sind.

Rainer Maria Rilke, dessen „Briefe an einen jungen Dichter“ zuweilen als Modell durchschimmern, ging sowohl in seiner pantheistischen Gottessuche wie in seiner schmerzhaften Beschreibung städtischen Elends immer aufs Ganze. Und man muss mit Gottfried Benn, dessen „gezeichnetes Ich“ Strauß als Mottogedicht vorangestellt hat, nicht durch die Krebsbaracke geschritten sein, um von seiner Dichtung in den existenziellen Grundfesten erschüttert zu werden.

Im ungemütlichen, auch durch Ironie nicht ausrottbaren Ernst jedes einzelnen Wortes liegt die Herausforderung – nicht in einer durch spektakuläre Themen erkauften Radikalität. Simon Strauß hat das Zeug, sie anzunehmen. Er sollte sich nur nicht von Kritikern, die sich in mittleren Jahren nach Revolution sehnen, mit diesem „Kampfbuch gegen die In-Spuren-Geher“, wie es Volker Weidermann auf dem Umschlag preist, vorschnell als Legionär in die Schlacht schicken lassen.

Simon Strauß: Sieben Nächte. Blumenbar Verlag, Berlin 2017. 144 Seiten, 16 €.

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