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Eine Frau mit einem Protestschild bei einer Demonstration.

© imago images/Hartenfelser

Ideologien in der Coronakrise: Warum Verschwörungstheoretiker nicht einfach nur Spinner sind

Der Glaube an finstere Mächte hinter der Coronakrise ist nicht bloß Unfug, sondern ein gefährliches Krisensymptom moderner Gesellschaften. Ein Essay.

Beinahe scheint es, als gehöre es in diesen Tagen zum guten Ton, sich über Verschwörungstheoretiker lustig zu machen. Kein Wunder: Die wachsende Gemeinschaft der ideologischen Schwurbler gibt laufend neuen Anlass. Immer abstruser wird das Gerede von der großen Gates-Verschwörung, der drohenden Zwangsimpfung mit Mikrochip-Implantaten und der planvollen Vernichtung der Weltbevölkerung. In Deutschland folgen Tausende dem manisch insinuierenden Ken Jebsen oder dem raunenden Xavier Naidoo um gegen eine vermeintliche „Corona-Diktatur“ aufzubegehren.

Und witzig ist das längst nicht mehr. Kochbuchautor Attila Hildmann fabulierte am vergangenen Wochenende vor dem Reichstag gar von „kleinen Eliten, die nur böses vorhaben“ und warnte die Anwesenden: „Viele von Euch werden umgebracht.“ Beinahe wirkte es, als habe er sich das Vokabular seiner Rede in der antisemitischen Hetzschrift der „Protokolle der Weisen von Zion“ geborgt. Zwar machte Hildmann nicht Juden für die Situation verantwortlich, doch Rhetorik und Argumentationsformen erinnerten in beängstigender Weise an das Pamphlet.

Die Protokolle gelten als Prototyp moderner Verschwörungstheorien. Ihre Wirkungsgeschichte steht beispielhaft dafür, wie schwer es ist, gegen solche Ideologien vorzugehen. Die vermeintlichen Dokumente einer jüdischen Weltverschwörung wurden in einem international beachteten Schweizer Strafprozess in den 1930er Jahren als Fälschung entlarvt. Den mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten konnte das trotzdem nicht stoppen. Hannah Arendt stellte später fest: „Wenn (…) eine so offensichtliche Fälschung wie die Protokolle der Weisen von Zion von so vielen geglaubt wird (…), so handelt es sich darum zu erklären, wie dies möglich ist, aber nicht darum, zum hundertsten Male zu beweisen, was ohnehin alle Welt weiß, nämlich, dass man es mit einer Fälschung zu tun hat.“

Sind Verschwörungstheoretiker einfach nur Spinner?

Heute sind Verschwörungstheoretiker eine wissenschaftlich gut erforschte Spezies. Experten wurden in den vergangenen Wochen nicht müde zu erklären, dass Menschen in Krisen versuchen, Kontrolle über ihre Unsicherheit zu erringen. Für abstrakte Problemstellungen wie eine Pandemie werden dabei kurzerhand Einzelpersonen und Gruppen verantwortlich gemacht. Es sind ihre abstrusen Analysen, weswegen Verschwörungstheoretikern oftmals der Stempel des irrationalen Außenseiters, psychisch Kranken oder schlicht des Spinners aufgedrückt wird. Doch das ist zu einfach.

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Denn wirre Ideologien stehen keineswegs im Widerspruch zum Ideal einer aufgeklärten Gesellschaft. Nicht umsonst war das 18. Jahrhundert, die große Epoche der Aufklärung, eine Blütezeit von Verschwörungstheorien. Wo nicht mehr Gott oder mythische Kräfte das menschliche Schicksal lenken, schien es für das rationale Denken naheliegend zu sein, dass Menschen im Verborgenen handeln müssen, sich heimlich untereinander absprechen. Verschwörungstheorien können darum auch als Schattenseite einer durchrationalisierten Gesellschaft gewertet werden, als hilfloser Versuch einer Antwort in Zeiten existenzieller Verunsicherung.

Dieses Denken ist allerdings keine anthropologische Grundkonstante, sondern verändert seinen Charakter mit den Problemstellungen der jeweiligen historischen Konstellation. So haben vermeintlich absurde Erklärungsmuster auch in der liberalen Demokratie durchaus eine Funktion im gesellschaftlichen und psychologischen Haushalt. Wiederholt stellten Studien fest, dass gefährliches Verschwörungsdenken besonders dort in Erscheinung tritt, wo sich Teile der Gesellschaft permanent bedroht fühlen. Menschen, die ihre Lebenssituation als ungerecht empfinden oder sich von der Politik allein gelassen fühlten, glauben signifikant häufiger an Verschwörungstheorien. Demzufolge könnten diese Denkmuster im Sinne von Theodor W. Adorno durchaus als „Wundmale der Demokratie, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird“ bezeichnet werden.

Die Marionetten der Ökonomie

Erst im vergangenen Jahr offenbarte die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland damit zufrieden ist, wie die Demokratie funktioniert. Unter Arbeitern waren sogar 70 Prozent unzufrieden. Michael Butter, der ein EU-Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien leitet, führt an, dass auch die erneute Bildung einer Großen Koalition „unfreiwillig dazu beigetragen hat, dass der Nährboden für Verschwörungstheorien größer geworden ist“. Das Gefühl verstärke sich: Es ist längst egal, wen ich wähle, meine Stimme macht ohnehin keinen Unterschied.

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Menschen stehen in modernen Gesellschaften nicht mehr unter der Kontrolle von willkürlichen Herrschern oder fremden Mächten. Stattdessen soll die unsichtbare Hand des Marktes das Geschehen lenken. In Krisenzeiten wird diese aber leicht mit der Hand eines Puppenspielers verwechselt, die die Marionetten der Ökonomie tanzen lässt. Statt das Weltwirtschaftssystem als krisenanfälliges, komplexes gesellschaftliches Verhältnis zu erfassen, schlägt das menschliche Bedürfnis nach Unmittelbarkeit in personalisierendes Denken um.

Der Nährboden für Verschwörungstheorien ist schon länger da

Das Feindbild Bill Gates könnte dabei auch ein Platzhalter für das Unbehagen gegenüber ökonomischen Machtverhältnissen sein, in denen ein einziger Mensch so viel Geld wie ganze Volkswirtschaften besitzt. Nein, Gates steuert die Weltgesundheitsorganisation nicht, um perfide Sterilisationspläne durchzusetzen – aber ohne seine Stiftung als privater Geldgeber würde die Koordinationsbehörde der Vereinten Nationen womöglich zusammenbrechen.

Wo das Recht auf Privateigentum höher eingeschätzt wird als demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten, können Verschwörungstheorien durchaus als gefährlicher Ausdruck einer erlebten Ohnmacht gewertet werden. Wenn Menschen ein Ablassventil für ihre diffuse Frustration suchen, liegt der Griff zur Ideologie nahe. Verschwörungstheorien sind somit auch ein Warnsignal, ein Ausweis der geistigen Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft.

Es gilt wachsam zu bleiben: Im Zuge der „Mitte-Studie“ bejahten im vergangenen Jahr übrigens auch die Hälfte der Befragten die These, es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Ebenso viele stimmten der Aussage zu, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Experten. Und so scheint nicht erst mit der Krise der Nährboden für Verschwörungstheorien bereitet zu werden. Vielmehr ist sie das Brennglas, das ein tiefergreifendes Problem offenbart. Und die perfekte Bühne für Querfrontstrategen, um das Heer der Verängstigten zu mobilisieren.

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