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Ellen Richter verkörperte ein neues Frauenbild im deutschen Stummfilm.

© Foto: Deutsche Kinemathek

Weimarer Kino-Pionierin Ellen Richter: Die neue Weiblichkeit, furchtlos, eigensinnig

Die Schauspielerin und Filmproduzentin Ellen Richter ist eine vergessene Größe der 1920er Jahre. Eine Filmreihe erinnert an den Stummfilmstar.

Berlin 1928: Der Zug hat den Berliner Bahnhof Zoo kaum verlassen, als der Abgeordnete Beermann die junge Tänzerin Ninon de Hauteville vor seinem Erste-Klasse-Abteil entdeckt. Der ältere Mann zögert keine Sekunde und drückt dem Schaffner Geld in die Hand, um die junge Frau in sein Abteil bitten zu lassen. Alles scheint bereit für sein Gegockel, nur der Ehering am Finger will nicht sofort abgehen. Bemüht, ein weltgewandtes Bild abzugeben, leiht der Abgeordnete der Tänzerin seine Kulturzeitschrift.

Komödie über die Weimarer Doppelmoral

Eine Anzeige im Heft wirbt für jene Berliner Sensationsrevue, mit der die Tänzerin auf dem Weg zu einem Gastspiel in der Provinz ist. Lüstern fragt Beermann nach einer Privatvorführung im Abteil, doch Ninon wird es zu bunt. Als der Zug in Emilsburg eintrifft, wird Beermann von Frau und Tochter erwartet. Die Plakate und Werbepostkarten für die Show sind in den Straßen der Kleinstadt allgegenwärtig. Empörung simulierend ruft der Abgeordnete unverzüglich den örtlichen Sittlichkeitsverein zusammen.

Willi Wolffs „Moral“ macht sich ausgelassen über die Doppelmoral in der Weimarer Gesellschaft lustig und schwelgt in Bildern der Berliner Revuekultur der 1920er Jahre. Die Komödie gehört zu den bekanntesten überlieferten Filmen der österreichischen Schauspielerin und Produzentin Ellen Richter, die eine der schillerndsten und umtriebigsten Persönlichkeiten im Weimarer Kino war. „Moral“ eröffnet am Freitag die Reihe „Ellen Richter – Die große Unbekannte“, mit der die Filmhistoriker:innen Oliver Hanley, Lihi Nagler und Philipp Stiasny im Kino Arsenal den Stummfilmstar feiern.

Eine Szene aus „Die Dame mit dem Tigerfell“ (1927), unter der Regie von Richters Ehemann Willi Wolff.
Eine Szene aus „Die Dame mit dem Tigerfell“ (1927), unter der Regie von Richters Ehemann Willi Wolff.

© Foto: Deutsche Kinemathek

Die in Wien geborene Richter wirkte nach einer Schauspielausbildung ab 1913 in einer Vielzahl populärer Filme mit. 1920 gründet sie in Berlin ihre eigene Produktionsfirma, bei nicht wenigen Filmen führte ihr Mann Willi Wolff Regie. 1935 mussten beide vor den Nationalsozialisten nach Wien fliehen, nach der Annexion Österreichs durch Deutschland weiter nach Frankreich. Ein Affidavit von Ernst Lubitsch ermöglicht ihnen 1940 die Emigration in die USA. Richters Mutter und ihre ältere Schwestern starben in deutschen Konzentrationslagern. Nach ihrer Flucht drehen Richter und Wolff keine Filme mehr. Wolff stirbt 1947 in Nizza an einem Herzinfarkt, Richter 1969 in Düsseldorf.

Richter stehe „für Witz und Charme, für eine neue Weiblichkeit, furchtlos, abenteuerlustig, eigensinnig“, schreiben die Kurator:innen im Programmtext. Von ihren siebzig bis 1933 entstandenen Filmen sind heute allerdings nur die wenigsten überliefert. Auch „Moral“ ist nur unvollständig erhalten. Möglich wurde diese bislang vollständigste Retrospektive der Filme Richters durch eine Reihe von Restaurierungen in den vergangenen Jahren. So ist „Moral“ erst 2019 im Rahmen des „Förderprogramm Filmerbe“ digitalisiert worden.

„Leben für Leben“ von 1916 ist der früheste Film der Reihe und steht als Beispiel für Richters Anfänge im Sensationskino des ausgehenden Kaiserreichs. Ein Brief setzt Fürstin Metschersky (Ellen Richter) unter Zugzwang: Ihr Mann ist gestorben und vom Erbe nichts übrig. Praktischerweise ist gerade ein Bankier zur Hand, der der Betrügerin den Lebensunterhalt sichern soll. Metschersky lädt zum Abendessen, der Bankier folgt der Einladung, man hangelt sich von Festivität zu Festivität. Geschickt entzweit die Fürstin den Bankier von seinem Kompagnon. Spektakulär sind die Szenen im verschneiten Riesengebirge: Bei einer Jagdpartie strahlt das leuchtende Weiß von der Leinwand, es bildet die Kulisse für die Intrige.

(Filmreihe „Ellen Richter – Die große Unbekannte“ vom 14. bis 30. Oktober im Kino Arsenal)

Inszeniert hat den Film Richard Eichberg, der in der Weimarer Republik zu einem der gefragtesten Regisseure werden sollte. Schon die zeitgenössische Kritik stellte die darstellerische Leistung der etwas schwachen Handlung gegenüber: „Durch eine ausgezeichnete Darstellung wird die nicht immer ganz klare Handlung, die aber große dramatische Höhepunkte hat, sehr gehoben. Besonders Ellen Richter leistet Hervorragendes.“

„Ellen Richter – Die große Unbekannte“ lädt nun dazu ein, einen seinerzeit ungemein beliebten, heute aber weitgehend vergessenen Star des deutschen Stummfilms wiederzuentdecken. Angesichts der Modernität von Richters Rollen kann man sich über dieses Vergessen allerdings nur wundern. Ihre fantastisch überbordenden Filme, so populär wie auch wissend um die gesellschaftlichen Verhältnisse, stellen wieder einmal die Kanonisierung des Weimarer Kinos infrage, die durch immer zahlreichere Wiederentdeckungen glücklicherweise langsam erweitert wird. Für die Filmreihe im Arsenal wurden darüber hinaus namhafte Stummfilmmusiker:innen aus ganz Europa engagiert, um die zwölf Abende zu einem angemessenen Hör- wie Sehgenuss zu machen.

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