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Begründer des Bildungsromans. Christoph Martin Wieland (1733 - 1813)

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„Wen so etwas nicht entzückt …“: Jan Philipp Reemtsmas große Biografie über Christoph Martin Wieland

Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma zeigt, wie der Begründer des Bildungsromans Dichtung und Philosophie zu einen versuchte.

Von Eberhard Geisler

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Als Ludwig Tieck in Jena einmal Fichte gegenüber bekannte, auf der Einheit von abstraktem Denken und poetischer Anschauung bestehen zu wollen, hatte er sich von dem Philosophen eine schallende verbale Ohrfeige geholt. Hatte der Deutsche Idealismus nicht gerade daran gearbeitet, beide Bereiche scharf voneinander zu trennen?

Jetzt erfahren wir, dass Christoph Martin Wieland in der Rezeption seiner Werke eine ähnliche Demütigung hat hinnehmen müssen. Jan Philipp Reemtsma, der sich lange mit diesem Schriftsteller des 18. Jahrhunderts befasst hat, verweist zu Beginn seiner neuen Biografie auf das Rätsel, dass Wieland zu seiner Zeit zwar zutiefst bewundert, in der Folgezeit aber rasch vergessen worden war.

Im Fortgang seines Buchs entwickelt er, wie es zu dem Eindruck kommen könnte, bei diesem Autor handle es sich bloß um eine temporäre, irrlichternde Erscheinung. Im 19. und noch im 20. Jahrhundert, schreibt er, tat sich die Kritik schwer damit, jene Einheit von Philosophie und Dichtung ernst zu nehmen, die Wieland vorgeführt hatte und wenig später auch noch Tieck vorgeschwebt war. Reemtsma kann zeigen, dass Wieland etwa in seiner „Geschichte des Agathon“ hochreflektiert die „Standortabhängigkeit des Blicks in die Welt“ hervorkehrt und zugleich den Roman zur allgemein anerkannten literarischen Gattung in Deutschland machte.

Wieland, ein Pfarrerssohn, musste sich von der strengen protestantischen Tradition des Vaters lösen und empfand ein Leben lang Abneigung gegen eine mönchische Askese, wie sie nicht zuletzt mit den protestantischen Arbeitsidealen verbunden gewesen war. Als 17-Jähriger himmelt er seine Cousine Sophie an und tut dies zur Selbstvergewisserung seiner dichterischen Berufung. Reemtsma bemerkt: „Es braucht, wie es scheint, eine Person voller Reiz und Schönheit, an der er beweisen kann, dass er einen Sinn dafür besitzt.“

Sehnsüchtige Blicke

Wenig später versucht er die katholische Christine Hogel zu heiraten, aber nachdem die bikonfessionelle Eheschließung mit ihr von der Obrigkeit verhindert wird, kann er Sophie in einem Brief nur noch von bitterer Enttäuschung berichten: „Das einzige, was uns möglich war, war uns einen Moment von fern zu sehen; ich stieg hinab in meinen kleinen Garten, sie ging hinauf auf den Dachboden ihres Hauses, von wo aus der Blick in meinen Garten führt. Wir sahen uns einige Sekunden an.“ Dieser Blick muss einem noch heute in die Glieder fahren.

Aufschlussreich ist, an welche Autoren der junge Schriftsteller anknüpfen wollte. Da ist Barthold Heinrich Brockes, dessen Naturbeschreibungen er um die Anwesenheit durchaus leichtbekleideter Personen erweitert, wie der Biograf feststellt. Ebenso Lukrez, dessen Hinwendung zur Natur und Absage an ein von Göttern verheißenes Jenseits er gern übernimmt. Er hält in diesem Sinn fest, das All besitze „alle mögliche Arten der Schönheiten, es läuft durch alle möglichen Veränderungen; und alle diese Verschiedenheit verliert sich doch endlich in einem Hauptzweck, welcher der größte und beste ist, der gedacht werden kann. Dieses ist die Sammlung der Dinge, deren Natur in den folgenden Büchern entworfen ist!“

Mit der Überzeugung, dass eine derart literarisch erfasste Welt zugleich „das vollkommenste Werk der Gottheit“ sei, „zu dessen Vortrefflichkeit alle Eigenschaften Gottes zusammengestimmt haben“, bleibt er auf seine Art und Weise dann doch der theologischen Überlieferung treu.

Wielands letztes Werk ist der große Briefroman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“, der um die Wende zum 19. Jahrhundert entstand. Hier führte er noch einmal in aller Ruhe aus, worum es ihm in seinem Schreiben ging, nämlich um ein Gedenken der Antike, um eine entspannte Gesprächskultur und eine Urbanität, in der auch erotische Neigungen freimütig zur Sprache kommen durften.

Eigentümlich, dass auch Goethe trotz aller Anerkennung der Werke Wielands Ranküne gegen ihn gehegt hat und ihn spöttisch der „Mäßigung“ in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen zieh - keine Teilnahme am Weimarer Hofleben, das ihm vom nahen Oßmannstedt doch erreichbar gewesen wäre, ein treuer Ehemann, der nicht länger von anderen Frauen erotisch versucht werden konnte. Reemtsma aber weiß Bescheid, kennt Wieland als den tonangebenden Erotiker des deutschen 18. Jahrhunderts, zitiert ihn gern und kommt zum Schluss: „Wen so etwas nicht entzückt, dem ist nicht zu helfen.“

Ja, Wieland hat die moderne deutsche Literatur erfunden. Jetzt lässt sich aus seinem Werk wieder ein Rumoren vernehmen, das gleichsam im Untergrund ruhen musste, um uns heute etwas anzugehen. Es wiederentdeckt, präzis und klug beschrieben zu haben, ist Reemtsmas großes Verdienst.

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