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So sehen Sieger aus. Vincent Wolfsteiner als Walther von Stolzing in der Kinderoper, Klaus Florian Vogt als Walther/Wagner in der Fassung für Erwachsene.

©  Enrico Nawrath/Festspiele

„Die Meistersinger“ in Bayreuth: Wenn der Wagner-Mythos in die Wirklichkeit ragt

Die Bayreuther Festspiele zeigen „Die Meistersinger“ einmal für Kinder. Und als Inszenierung von Barrie Kosky. Leider ist nur eine der Interpretationen wirklich meisterhaft.

Bayreuth ist, wenn die Boulevardpresse rätselt, was denn mit der Kanzlerin los sei, wohnt sie der „Tannhäuser“-Premiere doch alleine bei. Und wenn der Boulevard sich erleichtert zeigt, als Angela Merkel beim „Lohengrin“ wieder mit ihrem Mann im Parkett sitzt.

Bayreuth ist, wenn das Publikum in der Pause, mit Sekt- (11 Euro) oder Weinglas (12,50 Euro) an den Schrifttafeln zu den einst vom Hügel vertriebenen jüdischen Sängern und Musikern vorbei flaniert.

Bayreuth ist auch, wenn beim späten Pfifferling-Teller im Wirtshaus Wolffenzacher das Ehepaar am Nachbartisch Geschichten von Peter „Tristan“ Hofmanns seligen Zeiten erzählt und der ältere Herr einen mit einer intonationssicher geschmetterten Lohengrin’schen Gralserzählung in die Nacht entlässt.

Service-Orientierung vermisst man

Peter Hofmanns Vokuhila-Frisur – so legendär wie die Hügel-Auftritte des Startenors – lässt sich auch in der „Meistersinger“-Kinderoper auf der Probebühne IV besichtigen, trägt doch Vincent Wolfsteiner als Walther sein Blondhaar genauso. Schöne Anspielung für die begleitenden Erwachsenen. Schön auch, dass es die von Katharina Wagner initiierte Kinder-Reihe nun im elften Jahr gibt und die Festspielchefin bei den Opern-Kurzfassungen mit Hand anlegt. Lohengrin mit blinkendem Schwan-Tretmobil (2014), „Parsifal“ mit Klingsors Zaubergarten als Lolly-Paradies (2015) und der ganze „Ring“ in nur zwei Stunden (2018): Auch die Wagner-Light-und-Lustig-Versionen haben auf dem Hügel inzwischen Tradition. Der Eintritt für Kids ist umsonst, Erwachsene zahlen, sind aber nur in Begleitung Minderjähriger zugelassen. Gut so.

Schade nur, dass wie überall im hiesigen Festspielbetrieb ein kaum verständliches Regelwerk greift. Es besagt: Kinderprogramme nie im Haupthaus (was an Spitzenhäusern und in Philharmonien längst state of the art ist), sondern halb im Gebüsch neben dem Lieferanteneingang. Das Festspielhaus mag eine ähnlich überhitzte Holzbaracke sein und die Bestuhlung dort fast so unbequem wie hier die Zuschauertribüne ohne Lehnen. Aber wird Oper für Kinder so attraktiv? Und das unruhig auf seinem Platz herumrutschende Mädchen darf kurz vor Beginn nicht mehr raus aufs Klo. Als es letztes Jahr in der „Ring“-Pause keine Getränke gab, wurde auch der Gang zur Wasserflasche im Auto erst nach Protesten gestattet. Beim Servicegedanken üben sie noch ...

Klaus Florian Vogt als Walther/Wagner in der Fassung für Erwachsene.
Klaus Florian Vogt als Walther/Wagner in der Fassung für Erwachsene.

© Enrico Nawrath/Festspiele

Schade auch, dass die neuen Kinder-„Meistersinger“ (die ersten gab’s 2012) unter Regie von Dirk Girschik recht verzopft bleiben. Trotz kleiner Gags wie dem in breites Fränkisch verfallenden Meistersinger-Friseur und seinem mit Strickliesel hantierenden Strumpfwirker-Kollegen. Und trotz der bei den Kostümen beteiligten Duisburger Schulkassen – Schülerbeteiligung hat hier ebenfalls Tradition. Die Garderobe der Sängerinnen und Sänger hat trotzdem eher die Anmutung von Altkleidersammlungsstücken. Recht uncool auch die Pappmaché-Kulissen mit aufgemaltem Mauerwerk und Plastikflieder.

Ganz zu schweigen von der simplen finalen Moral: Freiheit ist gut, aber ganz ohne Regeln geht’s nicht. Kinder vertragen kompliziertere Wahrheiten. Selbst das vertrackt Politische des Stücks ist ihnen zumutbar: Ausgrenzung und Sündenböcke wie den von Wagner mit antisemitischen Zügen ausgestatteten Beckmesser gibt’s auch auf dem Pausenhof.

Dabei spielt das Brandenburgische Staatsorchester aus Frankfurt/Oder unter Leitung von Azis Sadikovic mit derartiger Verve, dass es am Ende glatt das haushohe Portal aufreißt und Tageslicht in die Opernhöhle dringt. Auch die Sänger, darunter gleich vier Meistersinger, die am gleichen Abend in der Wiederaufnahme von Barrie Koskys Inszenierung in anderen Rollen auf der Hauptbühne stehen, lassen sich nicht lumpen. Werner Van Mechelen als Sachs, Christiane Kohl als Eva, Armin Kolarczyk als Beckmesser, Timo Riihonen als Pogner, sie alle agieren mit großer Leidenschaft, singen mit voller Kraft. Und Stefan Heibach als David fliegen die Herzen zu. Weil er zum einzigen Mitmach-Moment animiert. Und weil er unermüdlich vermittelt, dem seltsamen Sänger-Vogel Walther die Regeln erklärt und bei den altbackenen Meistersingern für ihn wirbt. Nicht nur das junge Publikum, auch die musikalische Topqualität hätte eine pfiffigere Regie verdient.

Meisterleistung eines spielfreudigen Chors

Derweil wird Koskys Inszenierung im Haupthaus jedes Jahr besser – und der Schock des überdimensionalen Judenfratzen-Ballons nach der Prügelszene kein bisschen geringer. Das irrwitzige, bis ins Detail von immenser Spiellust beseelte Vergnügen, die Bewohner und Besucher der Villa Wahnfried von den Wagners über Liszt bis zum jüdischen Dirigenten Hermann Levy sich auf offener Bühne in „Meistersinger“-Figuren verwandeln zu sehen, hat die Rezeptionsgeschichte des ersten Aufzugs schon jetzt verändert. Michael Volle als Sachs/Wagner und Johannes Martin Kränzle als Levi/Beckmesser verkörpern die Partien ihres Lebens. Beide sind sie Menschen und Monster. Der eine Toleranz predigend, aber in den eigenen Ressentiments verstrickt: ein zerrissener Künstler aus der Mitte der Gesellschaft, um deren Liberalität es ja auch heute nicht gut bestellt ist. Der andere als das Opfer, erschütternde Veitstänze tanzend. Wie Kränzle zwischen Überanpassung und brutaler Erniedrigung, Liebedienerei und dem Schmerz eines von allen Gehassten laviert, ist unübertrefflich.

Klaus Florian Vogt, noch am Vorabend ein statuarischer Lohengrin, beweist als Walther, dass der Schmelzklang seines Tenors über ungebrochene Strahlkraft verfügt und er gleichzeitig ein Charakterdarsteller sein kann. Camilla Nylund als neue, endlich jugendlich vitale und emotional anrührende Eva/Cosima komplettiert das nun restlos famose Ensemble. Dazu die Meisterleistung des nuancierten, ebenfalls spielfreudigen Chors – und Philippe Jordan am Pult, der das Festspielorchester weniger sportlich führt als noch 2018. Das Vorspiel zu Sachsens „Wahn“-Arie wird zur aufwühlenden Klage über den Verlust der Menschlichkeit.

Bayreuth, das ist eben auch, wenn der Wagner-Mythos in die Wirklichkeit ragt – und weniger über Wagner erzählt als über uns, die wir seine Musik hören.

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