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Der Historiker Fritz Stern.

© Kai-Uwe Heinrich

Fritz Stern im Interview: "Wer sich seiner sicher ist, für den ist Überfremdung keine Gefahr"

1989 war das schönste und beste Jahr eines schlimmen Jahrhunderts, fand der Historiker Fritz Stern. Anlässlich seines Todes veröffentlichen wir noch einmal ein Gespräch über westliche Werte und die Migrationsproblematik.

Fritz Stern war ein Zeitzeuge und Deuter des 20. Jahrhunderts. Am 18. Mai starb er mit 90 Jahren in New York. Bis zuletzt hatte er sich am öffentlichen Diskurs beteiligt. Lesen Sie hier unser Interview mit ihm aus dem Juni 2015 nach.

Herr Professor Stern, Sie haben kürzlich bei einem Vortrag in Berlin dazu aufgerufen, den liberalen Westen im Sinne Heinrich Heines und Willy Brandts zu erhalten.
Und zu verbessern!

Machen Sie sich Sorgen?
Die Sorge besteht in der Frage, wie weit es den Menschen in Deutschland – wie auch in anderen Ländern inklusive der USA – überhaupt bewusst ist, was historisch und politisch alles erreicht wurde und dass man das Erreichte beschützen muss. Ich habe den Eindruck, dass der sogenannte Euro-Skeptizismus sich weiter ausbreitet und sehe das mit Besorgnis. Es gibt Anzeichen eines Desinteresses der Menschen an der Politik, was sehr gefährlich ist oder auch Anzeichen einer großen Skepsis, Antiamerikanismus inklusive. Überhaupt gibt es eine nicht genügende Vorstellung von der Wichtigkeit des Westens.

Waren wir schon mal weiter, waren wir einer freien Welt schon mal näher und rudern jetzt wieder zurück?
Ich habe es schon früher gesagt: Meines Erachtens war 1989 das schönste und beste Jahr in einem schlimmen Jahrhundert. Da waren wir näher dran an einer freien Welt. Da haben sich die Menschen engagiert, sowohl im Osten als auch im Westen. Das hat man mit Freude gesehen. Der erste Impuls, der erste Funke war damals aus Polen gekommen, vonseiten der Solidarnosc, und dann selbstverständlich aus Leipzig und aus anderen ostdeutschen Städten. Das war ungeheuer eindrucksvoll.

In denselben Städten, allen voran in Dresden, geht jetzt ein fremdenfeindliches Gespenst namens Pegida um. Die AfD wirbt mit rechten Parolen, und auch der Antisemitismus lebt wieder auf. Beobachten Sie diese Phänomene?
Ja. Zum Teil lässt sich das von Amerika aus beobachten, aber ich lese auch deutsche Zeitungen und halte mich durch Freunde auf dem Laufenden. Ich bedaure selbstverständlich die Attacken von rechts, wobei ich immer betone, dass es ein großer Fehler wäre, zu sagen, die sogenannten Kritiker der EU wären die Konservativen. Nein, meistens sind das Radikale. Das ist ein großer Unterschied. Vor den Konservativen habe ich großen Respekt, die wollen das Existierende verbessern. Die wirkliche Gefahr kommt von Menschen – und das ist auch in Amerika der Fall, ich rede von Teilen der Republikaner –, die das Erreichte wieder abschaffen wollen. Ich bin mir bewusst, dass radikale Bewegungen auch in Deutschland zunehmen. Das ist in der Tat besorgniserregend.

Flucht und Exil sind Teil Ihres Lebens. Als Jude flohen Sie 1938 vor dem NS-Terror. Muss man solche Dinge erlebt haben, um den Wert von Freiheit zu begreifen?
Ja. Ich habe in meinem Vortrag Heines Worte zitiert: „Freiheitsliebe ist eine Kerkerblume“. Ich hoffe aber, den Leuten die Freiheitsliebe vermitteln zu können, bevor sie eine Kerker-Erfahrung machen müssen oder unterdrückt werden. Diese Vermittlung ist eine große Aufgabe, und ich weiß nicht, ob schon alles getan wurde, was dazu getan werden werden kann.

„Ich verließ Deutschland mit Hass und Heine“, haben Sie einmal gesagt. Kann Literatur helfen, Hass zu überwinden?

Ich glaube, es hängt zum großen Teil von den Menschen ab, ob sie sich von der Literatur so beeinflussen lassen, wie sie es eigentlich sollten, und ob die Literatur dazu beitragen kann, Hass abzulagern und größeres Verständnis zu bewirken.

Gibt es denn einen Zusammenhang zwischen schwindendem Einfluss der Literatur und schwindendem Interesse an Politik?
Die Frage habe ich in einer meiner allerersten Arbeiten behandelt. Es ging darum, dass der sogenannte unpolitische Deutsche eine große Gefahr war fürs Kaiserreich und dann für die Weimarer Republik. Der Gedanke aber, dass man mit Kultur Politik ersetzen könnte, ist ein schrecklicher. Politik ist essentiell, selbstverständlich genügt sie alleine nicht, aber sie bleibt unvermeidbar. Man muss sich politisch verhalten, jeder muss sich der Politik stellen

Demografisch ist es um Deutschlands Zukunft schlecht bestellt, das Land braucht Zuwanderer. Gleichzeitig grassiert eine bizarre Angst vor „Überfremdung“ – am heftigsten dort, wo es kaum Ausländer gibt.
Was die sogenannte Überfremdung angeht, solltet Ihr Euch klar darüber werden, wer Ihr eigentlich seid. Wer sich seiner selbst sicher ist, für den stellt die Überfremdung keine Gefahr mehr dar. Ihr müsst Euch darüber im Klaren sein, auf welcher Seite Ihr steht, wofür Ihr steht. Andererseits muss man zugeben, dass dieses ganze Gerede von Überfremdung leider auch in anderen europäischen Ländern eine Rolle spielt.

In Diskussionen um den Antisemitismus in Deutschland wird gerne relativierend betont: In Frankreich sei es noch schlimmer.
Das ist überhaupt kein Argument. Aber man muss verstehen, dass diese Themen und auch die Frage, wie man die Migrationsproblematik angeht, wie man beispielsweise die Flüchtlinge aus Afrika behandelt, europäische Themen sind. Man muss versuchen, eine europäische Lösung zu finden und nicht nur eine deutsche. Deutschland hat sich nie als ein Einwanderungsland empfunden. Es gibt da vieles, das noch nachzuholen ist, auch was das deutsche Selbstverständnis anbetrifft. Diejenigen, die nach 1945 als Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten kamen und beim Wiederaufbau mitgeholfen haben, spielten eine ganz große, wichtige Rolle in diesem Land.

Ist es vielleicht etwas Menschliches, die Angst vor Veränderung?
Es gibt ein holländisches Sprichwort, zumindest behauptet das ein holländischer Freund von mir: All change is bad, even change for the better. Dem kann ich nicht beipflichten, in keiner Weise. Aber gerade für ältere Generationen ist natürlich jede Form von radikaler Veränderung eine Zumutung. Es ist schwierig, mit Veränderungen fertigzuwerden. Das alles verlangt eine gewisse politische Erziehung, es verlangt auch von der jetzigen Regierung, der Bevölkerung klar zu sagen: Hier liegen die Probleme, hier liegen die Herausforderungen, damit müssen wir fertigwerden. Das ist nicht leicht, ich weiß. Aber man muss die eigenen Bürger mit der Wahrheit konfrontieren.

Was halten Sie davon, dass das alte Berliner Stadtschloss wiederaufersteht?
Wissen Sie, ich brauche nicht zu allem eine Meinung zu haben. Man sollte versuchen, sich der Vergangenheit zu stellen, was, glaube ich, für alle Länder schwierig ist, aber für Deutschland besonders. In Amerika haben wir das Problem mit der Sklaverei und dem Rassismus. Was Deutschland angeht, gibt es nicht nur den Nationalsozialismus, über den man aufklären muss, sondern auch andere Fragen: Warum ist Weimar gescheitert? Warum endete der Erste Weltkrieg mit dieser schrecklichen Vaterlandspartei, mit einem radikal rechten Entwurf, der noch während des Krieges entstand?

Historiker Fritz Stern
Historiker Fritz Stern erklärt, warum wir westliche Werte erhalten müssen.

© dpa

Tobias Schwartz

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