
© Jens Ziehe 2022; Michaela Melián / VG Bild-Kunst, Bonn, 2022
Kunst von Michaela Melián im KINDL: Wie cool ist es, für seine Ideale zu sterben?
Hochaktuell: Michaela Melián nutzt das Beispiel der Guerilla-Kämpferin Tamara Bunke und beleuchtet Themen wie Krieg und Heldentum.
Stand:
Schneeflocken und Schilder treiben an der Windschutzscheibe vorbei. Die Videobilder einer Autofahrt durch die Winternacht wechseln sich mit Aufnahmen aus einem Flugzeug ab, das über Felder segelt. Aber nein, zu sehen ist ein mit struppigen Nähmaschinenzeichnungen versehenes Tuch. „Speicher“ lautet der Titel einer Videoinstallation in einem Darkroom im Kindl-Zentrum, die unüberhörbar auch mit Texten und Musik des Soundtracks um das Motiv der Reise kreist.
2008 konzipierte Michaela Melián diese Hommage an eine verschollene Multimedia-Installation. „VariaVision. Unendliche Fahrt“ von Edgar Reitz und Alexander Kluge wurde 1965 für einige Wochen in der Internationalen Verkehrsausstellung in München gezeigt.
Das Motiv der Reise
Mélian, 1956 in München geboren, zeigt in ihrer ersten Berliner Überblicksschau dem Prinzip Collage verpflichtete Arbeiten, in denen sie sich historischen Artefakten und Persönlichkeiten widmet. Einen einzigen roten Faden kann es in der Erzählung, die beharrlich Vergangenheit mit Gegenwart verknüpft, nicht geben. „Red Threads“ lautet der Ausstellungstitel im Plural, viele Fäden sind hier versponnen. Dass man sich durchaus drin verheddern kann, ist wahrscheinlich beabsichtigt.
Vermeintlich leicht konsumierbar fängt es an, mit knautschigen Kissen in Modefarben auf der ersten Wand, die allerdings Maschinengewehren nachgebildet sind. Auch das rote Sofa, das Lust auf ein Nickerchen macht, entspricht dem Umriss der Handfeuerwaffe Mossberg Bullpup (deutsch: Bulldoggenwelpe), die als „Selbstverteidiungswaffe“ auf den US-Markt kam, aber auch vom Los Angeles Police Department verwendet wurde.
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Von der Verstrickung in Gewalt – einem sehr zeitgenössischen Gefühl angesichts der überfallenen Ukraine – kündet auch der „Tania“-Werkzyklus, aus dem die jüngsten Werke der Ausstellung stammen. Ein Wandbild, eine Soundinstallation, eine bedruckte Fahne und Zeichnungen fügen sich zu einem bewusst unscharf gehaltenen Porträt der 1937 in Buenos Aires geborenen Tamara Bunke, die nach dem Krieg mit den Eltern in die DDR übersiedelte, sich in den 1960ern in Bolivien der Guerilla um Che Guevara anschloss und den Kampfnamen Tania wählte. 1967 geriet sie in einen Hinterhalt und wurde erschossen. Ihre Eltern waren aus Nazideutschland ins argentinische Exil geflohene Kommunisten, der Vater Deutscher, die jüdische Mutter stammte aus Odessa.
Tania kämpfte an der Seite von Che Guevara
In Tamara Bunkes Geschichte kreuzen sich mit Totalitarismus, Krieg, sozialistische Moderne, Emanzipation und Befreiung die Themen des 20. Jahrhunderts. Bunkes Identität ist eine Frage von Zuschreibungen und ideologisch gefärbten Sichtweisen - in Ostdeutschland wurde sie gefeiert, im Westen eher vergessen – und lässt sich gleichsam nur aus unzuverlässigen Erzählungen, gefälschten Dokumenten und der Tarnidentität Tanias als Anthropologin zusammensetzen.

© Jens Ziehe, 2022; Michaela Melián / VG Bild-Kunst, Bonn, 2022
Die raumhohe „Fahne Tania“ zeigt auf weißem dünnen Stoff ein bereits 1989 erstelltes Phantombild aus dem Fahndungscomputer des LKA München. Die Künstlerin hatte dem zuständigen Beamten ein Foto Bunkes mündlich beschrieben, der für die Rekonstruktion aber nur auf Männergesichter in der Datenbank zurückgreifen konnte. Für das ikonische Konterfei Che Guevaras gibt es kein weibliches Gegenstück. Tania als verblassender Mythos, als Leerstelle.
Das Radiergummi als passendes Werkzeug für ein Wandbild: Mosaikhaft wirkt das Bild, das ähnlich einem Filmband auf zwei Spulen um die Wand herumläuft wie ein Loop (eigentlich läuft das Publikum herum).
[Michaela Melián: „Red Threads“, bis 24. Juli, Kindl - Zentrum für zeitgenössische Kunst, Am Sudhaus 3, Mi 12-20 Uhr, Do-So 12-18 Uhr, Eintritt 5/3 Euro. Ein Übersichtskatalog erscheint im September 2022 bei spector books, Leipzig]
Es besteht aus mit Radiergummis aufgestempelten „Pixeln“, die – mit Abstand betrachtet –, Lebensstationen von Bunke zeigen oder indigene Skulpturen, die sie in ihrer Parallelexistenz als Ethnologin Laura Gutiérrez Bauer untersuchte. Im Rucksack der erschossenen Kämpferin wurden Tonaufnahmen der Musikkulturen gefunden, die Bauer alias Bunke erforschte. Daher ist Inka-Flötenmusik aus den Lautsprechern im Ausstellungsraum zu hören, neben Protest- und Revolutionsliedern.
In der DDR einst sehr verehrt
Der Sound mischt sich mit der Glasharfenmusik, die zur Installation „Heimweh (Else Lasker-Schüler)“ von 2012 gehört. Wie ein Leuchtturm wirft ein Diaprojektor mit rotierendem Prisma davor bewegliche Reflexionen von Gläsern, Karaffen und Plastikobjekten der fragilen Tischlandschaft auf einen Vorhang. „Girl-Kultur“ ist wiederum eine großflächige Teppicharbeit von 2019, auf der sich gezeichnete Küchenentwürfe aus den 1920ern schwindelerregend überlagern.
Neues Bauen, die (den Frauen vorbehaltene) Weberei am Bauhaus, Fragen von Emanzipation und Gender(un)gerechtigkeit spielen hinein. Meliáns Werk aus lauter „roten Fäden“, die im Kindl-Zentrum zusammenlaufen, wirkt wie ein Palimpsest: gleichzeitig tiefenscharf und mühsam zu lesen.
Vielleicht denkt man auch nicht zuviel nach und lässt sich treiben wie eine Schneeflocke. Zum Chillen bieten sich die 2016 für eine Bibliothek entworfenen „Mannheim Chairs“ an, die von der Decke hängen. Zum sitzen, schaukeln, hypnotische Musik lauschen und durchs Fenster die Silhouette einer ehemals in Ost und West geteilten Stadt betrachten.
Jens Hinrichsen
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