
© IMAGO/Photo News/IMAGO/Saola
Wie Oliviero Toscani einmal der Kreativszene die Leviten las: Die Botschaft vom Unterschied
„Es gibt nichts Langweiligeres als Modewerbung“: 1998 bekam Oliverio Toscani bei den Münchener Medientagen einen Preis - und bedankte sich mit einer unbequemen Rede.
Stand:
Dieser Text erschien am 18. Oktober 1998 im gedruckten Tagesspiegel.
Das blutgetränkte T-Shirt eines in Mostar getöteten Soldaten, das Sterbebett eines Aids-Kranken, das Neugeborene an der Nabelschnur, die bunten Präservative, die über die weiße Plakatfläche schwirren wie Fische im Aquarium: Die Werbung Oliviero Toscanis für den italienischen Strickwarenmogul Luciano Benetton schockt bisweilen die Öffentlichkeit – doch die Motive des Sohnes eines Fotografen liegen tiefer. Viel tiefer.
Am Donnerstag erhielt Toscani den zum ersten Mal vergebenen Preis des Vereins „Eyes & Ears of Europe“, der europäischen Vereinigung für Design, Promotion und Marketing der audiovisuellen Medien: Toscani habe die Werbung aus dem Ghetto einer konsumspezifischen L’art pour L’art befreit, wie Picasso die Kunst seiner Zeit – hieß es in der Laudatio.
Toscani bedankte sich in München auf seine Weise: Er las den Kreativdirektoren die Leviten. „Ihr müßt aufwachen! Produzieren und konsumieren ist ein menschlicher Mechanismus – aber warum müssen die Sprachen, die davon handeln, so langweilig sein? Warum konsumieren wir unser Leben, anstatt es zu gestalten? Ich sehe auf euren Plakaten mehr über die Gesellschaft in Deutschland als ich in den Zeitungen darüber lesen kann.“
Toscani rast mit seiner Kamera und seinen Mitarbeitern wie ein Besessener um die Welt, um das Leben einzufangen. Das Leben. Man sieht die Nachrichten, um zu sehen, wie das Wetter wird – anstatt in den Himmel zu schauen. Alle Hühnchen schmecken nach Hühnchen. Die erste Meldung in den Radionachrichten handelt von der Börse, nicht vom Leben.
„What’s happening here?“ Toscani hat sich für den Konflikt entschieden, der ihm gleichbedeutend ist mit Kreativität. „Wenn Du Sicherheit suchst, Research betreibst, bist Du mit Sicherheit nicht mehr kreativ – das ist der Moment, auf den es ankommt.“
Der Sohn eines Fotografen hat sich aus dieser Welt des schönen Scheins gelöst („es gibt nichts Langweiligeres als Modewerbung“). Die Welt sei doch eigentlich nicht langweilig, sondern meistens ziemlich spannend. Um nicht zu sagen: dramatisch. Er habe sich zwischen den Polen der öffentlichen Reputation und der Wiedererkennbarkeit seiner Motive für letzteres entschieden, was sicher auch im Sinne seines Auftraggebers ist: In Toscanis Kampagnen für Benetton geht es um Leben und Tod, um Themen, die weltweit allen Betrachtern vertraut sind. Die werbliche Kommunikation steht nicht im Dienste des Produktes, sondern Toscani produziert mit Benetton Kommunikation – sie wird Teil der Produktpalette wie die eingebaute Vorfahrt bei einem Mercedes-Benz.
Doch man griffe zu kurz, Toscani allein als besonders alerten Marketing-Mann in eigener Werbeangelegenheit zu begreifen: Der Mann hat eine Botschaft, die über die Imagewerbung für Benetton weit hinausreicht. Es ist die Botschaft vom Unterschied. Davon lebt seine Kampagne seit vielen, vielen Jahren.
Alles auf der Welt ist unterschiedlich, so hartnäckig unter dem Stichwort „Globalisierung“ auch dagegen gekämpft werden mag. Der Unterschied zwischen Hühnchen und Hähnchen, der Unterschied zwischen den Herzen eines schwarzen, eines weißen und eines gelb häutigen Menschen, der Unterschied zwischen Schönheit und schönen (Konsum-) Dingen.
„Ich habe keinen Plan, ich habe kein Büro, ich habe keine Gewohnheiten – deshalb bin ich vielleicht hier“, erzählte Toscani auf den Medientagen München in seiner Dankesrede nach dem ersten Blick auf den soeben verliehenen Preis – ein stilisiertes Kaleidoskop. Den Durchblick darf man ihm abnehmen.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: