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Buchcover von Marcel Beyers Gedichtband "Graphit".

© promo

Marcel Beyers Gedichtband „Graphit“: Wie Poesie entsteht

Marcel Beyers Gedichte sind Lichtspiele, Kamerafahrten und O-Ton-Protokolle zugleich. An seinem neuen Gedichtband „Graphit“ hat er zwölf Jahre lang gearbeitet. Was er sucht: die Sinnlichkeit der Wörter.

Der Dichter Marcel Beyer ist ein gewiefter Medientechniker. Seine Gedichte sind Lichtspiel, Kamerafahrt, O-Ton-Protokoll und Wörter-Konstellation zugleich. Sie gehen aus von der unmittelbaren sinnlichen Begegnung mit Klängen, Stimmen und visuellen Reizen – und öffnen dann einen geschichtlichen Raum, um ihn akribisch auszuleuchten. „Graphit“, sein neuer Gedichtband, an dem Beyer 12 Jahre lang gearbeitet hat, erkundet die Materialität von Dingen, um die in ihnen abgelagerte Geschichte freizulegen. Bereits das Titelgedicht führt beispielhaft die Verflechtung unterschiedlichster Wahrnehmungsperspektiven, Schauplätze und Schlüsselwörter vor. Die sechs Teile von „Graphit“ inszenieren meisterhaft die Entstehung von Poesie als „schrift die durch einen schneesturm watet". Dieses Thomas-Kling-Zitat wird hier zum Nukleus eines langen Gedichts, das „den Übergang von Weiß zu Grau zu Schwarz“ als schöpferischen Prozess darstellt. Der Blick des Dichters erfasst zunächst eine Kunstschneehalle in Neuss, dann folgt ein Schnitt und ein Filmset am Rande Moskaus wird imaginiert, wo der legendäre Sergej Eisenstein die Szene einer Winterschlacht drehen will.

Beyers Stoffe und Motive sind stets geschichtlich aufgeladen, genaue Bildbetrachtung verbindet sich mit historischer Recherche. Lyrische Mikro-Biografien, wie die narrativ strukturierten Gedichte zu Ezra Pound („Mein Blauhäher“) und Karl May („Sanskrit“), wechseln mit kühlen Verschaltungen epochaler historischer Momente („An die Vermummten“).

"Graphit", das Handwerkszeug des Schreibens

„Graphit“, das meint hier nicht nur das grauschwarze Mineral, sondern auch das Handwerkszeug des Schreibens, den Bleistift und die Grapheme der Schrift. „Ich muss hinunter in die Dialekte/ steigen“: Diese Verse markieren Beyers poetischen Imperativ. Sein lyrisches Subjekt steigt hinunter in die Dialekte, ein Spracharchäologe, der fremde Wörter, Begriffe und Namen abtastet, die dann mit ihren Klangwerten und ihren Morphologien zum Resonanzraum seines Schreibens werden. Als verlässlichen Begleiter erfindet der Dichter dabei einen „Sprachhund“, dessen „Appetit auf unbekannte Sprachen“ zur poetischen Antriebsenergie wird. Die Gedichte ziehen uns sofort hinein ins Sprachgeschehen, sie rufen in gestischer Direktheit ihre Sprachstoffe auf, Momente der Zeitgeschichte werden manchmal fast beiläufig erzählerisch, dann wieder fragmentarisch in schroffer Fügung evoziert. Im ersten Teil von „Graphit“ durchqueren Beyers Ich-Stimmen das heimatliche Rheinland, mit emphatischen Reminiszenzen an seinen verstorbenen Dichterfreund Thomas Kling.

Danach folgen Expeditionen in östliche Regionen: ins bulgarische Rustschuk, dem Geburtsort Elias Canettis; nach Tomis ans Schwarze Meer, dem Verbannungsort Ovids und zugleich Sehnsuchtsland des russischen Weltpoeten Ossip Mandelstam; schließlich nach Sankt Petersburg und Moskau, zum grübelnden Präsidenten Putin, der dem Untergang des Atom-U-Bootes „Kursk“ nachsinnt.

Der poetische Stimmensucher Marcel Beyer

Im Langgedicht „Sanskrit“ verwandelt der poetische Stimmensucher Beyer den berühmten Karl May, das Sprachengenie aus dem sächsischen Radebeul, zu seinem poetischen Stellvertreter. Das Gedicht, das anlässlich einer Karl-May-Oper entstand, führt alle Passionen des Lyrikers Beyer zusammen – seine Sprachbesessenheit, seine Erkundung des menschlichen Artikulationsapparats und schließlich seine Fähigkeit, die Position des lyrischen Ich auf viele Stimmen zu verteilen: „Sprache – ist zwischen Radebeul / und Ernstthal, ist heute / Nacht ein dunkles Tier mit / sanften Augen, ist Geheul.“

Das Gedicht, wie fast alle Texte des Bandes in vierzeilige Liedstrophen gefasst, hebt an als Kontrafaktur von Allen Ginsbergs „Howl“, als große Klage über den Untergang einer Generation. Danach formuliert der lyrische Protagonist ein Selbstporträt, das sich wie ein poetisches Credo des Dichters Marcel Beyer liest: „Ich / bin ein Mann, der sich in / alle Zeit verzweigt, ein Mann / der tief in Schützengräben / blickt und nichts vergessen kann...“

Rhythmus und Lambadamaschine

Dazu finden sich im zweiten Teil des Bandes viele Gedichte, die angetrieben sind von jener eminenten Musikalität, die schon immer Beyers Poesie inspiriert hat. „Und wichtig ist immer die Rhythmizität“, hat schon der junge Dichter vor einem Vierteljahrhundert gegenüber Thomas Kling bekannt – und diese Rhythmizität hat sich nun auch in „Liedpostkarten“ und Gedichte wie „Lambadamaschine“ eingeschrieben, einer modernen Form der Ballade, die von der Sozialisation des Ich durch bestimmte Sounds handelt. Der „Beat“ ist auch in einer Überschreibung des Trakl-Gedichts „An die Verstummten“ da, ein Text, der die Erschießung Osama Bin Ladens mit der emphatischen Beschwörung des drogensüchtigen Georg Trakl, dem „Slim Shady vom Waagplatz“, verknüpft. Die altehrwürdige Metapher hat der Sprachmaterialist Marcel Beyer durchweg vermieden, sein „Graphit“ konfrontiert uns direkt mit der Sinnlichkeit der Wörter. Wer nach Grundbüchern für eine zeitgemäße Dichtung der Gegenwart sucht, muss bei diesem Band beginnen.

Marcel Beyer: Graphit. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 207 Seiten, 21,95 €.

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