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Kultur: Wieviel wiegt ein Menschenkopf? Philippe Claudels Krimi „Die grauen Seelen“

In Robert Siodmaks Film Noir „Nachts, wenn der Teufel kam“ von 1957 spielt Mario Adorf einen historisch verbürgten Frauenmörder, der während des Zweiten Weltkriegs sein Unwesen trieb. Wenn in Hamburg des Nachts die Sirenen heulten, beging er im Schatten des allgegenwärtigen Sterbens mehr als fünfzig Morde.

In Robert Siodmaks Film Noir „Nachts, wenn der Teufel kam“ von 1957 spielt Mario Adorf einen historisch verbürgten Frauenmörder, der während des Zweiten Weltkriegs sein Unwesen trieb. Wenn in Hamburg des Nachts die Sirenen heulten, beging er im Schatten des allgegenwärtigen Sterbens mehr als fünfzig Morde. Erst als die Zivilbevölkerung in Unruhe geriet, nahm die Kriminalpolizei die Ermittlungen auf. An diese Atmosphäre erinnert die Situation in Philippe Claudels Roman „Die grauen Seelen“, mit zwei Unterschieden: Das Buch spielt vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs in Ostfrankreich; außerdem herrscht fahles Tageslicht vor, ein fatalistisches, alles egalisierendes Weiß, von dem eine betäubende Wirkung ausgeht und das sich wie der Schnee des Vergessens über zwei Morde legt.

An einem kalten Dezembermorgen 1917 treibt im Kanal einer lothringischen Kleinstadt eine erdrosselte Zehnjährige mit dem sprechenden Namen „Belle de Jour“. Die Kleine hatte häufig mit ihren Schwestern im väterlichen Wirtshaus ausgeholfen. In Nachbarschaft des Gerichts, „wo zwölf Geschworene das Gewicht eines Menschenkopfes wogen“, pflegen die Honoratioren zu speisen: Der feiste Ermittlungsrichter Mierck und der hagere Staatsanwalt Pierre- Ange Destinat, ein Paar, das sich immer wieder auf die Höchststrafe einigt, bevor es an getrennten Tischen Platz nimmt: „Zu Beginn des Jahrhunderts war ein Staatsanwalt noch ein bedeutender Herr. Und zu Kriegszeiten, wenn ein einziger Artilleriefeuerstoß eine ganze Kompanie wild entschlossener Kerle niedermähen konnte, war es eine echte Herausforderung des staatsanwaltlichen Handwerks, den Tod eines einzelnen Mannes in Ketten zu verlangen.“

„Bois-le-sang“, Bluttrinker, wird Destinats unter den Delinquenten genannt. In seinem Namen klingt „Destin“, Schicksal, an, wie der Erzähler in „Die grauen Seelen“ ohnehin zur Überdeutlichkeit neigt, zum Erklären und – oft recht platten – Kommentieren all dessen, was besser nur angedeutet geblieben wäre. Deshalb sei zumindest an dieser Stelle nicht verraten, welche Funktion dieser Erzähler bei der versuchten Aufklärung von zwei Morden hat. Denn nach der Belle de Jour kommt auch die elfengleiche Lehrerin Lysia Verhareine ums Leben.

Philippe Claudel, der 1962 im lothringischen Dombasle-sur-Meurthe geboren wurde, erhielt für seinen sechsten Roman „Les Âmes grises“ 2003 den Prix Renaudot. Auch in diesem eher konventionellen Buch erscheint die Frau als das klassische Opfer, das sein Schicksal still und klaglos erduldet, ja das in fast vegetativem Einverständnis dahinscheidet. „Du wirst nichts spüren“, lautet die Kursivinschrift eines Karabiners, mit dem der Erzähler auf der Hochebene über dem nahen Gemetzel des Krieges spazieren geht. Seine Frau wird ebenfalls sterben, und er lädt schwere Schuld auf sich, als er die Hochschwangere alleine lässt, um einem diffusen Verdacht nachzugehen.

Der Kontrapunkt zur namenlosen Kleinstadt, über die der Erzähler in einer Art Schreibzwang Jahrzehnte später aus dem Gedächtnis berichtet, ist wie bei Kafka das Schloss: In ihm residiert Destinat, der „Zeremonienmeister und Teufelsgeneral“, seit dem frühen Tod seiner Frau in völliger Einsamkeit. Das Portrait der in der Blüte ihrer Jugend Verstorbenen hängt wie ein Menetekel an der Wand, als würde es auf rätselhafte Weise Sühne einfordern. Dieses Schicksal scheint sich zu erfüllen, als der Lehrerin Verhareine ein kleines Haus auf dem Grundstück des Staatsanwalts als Dienstwohnung zugewiesen wird. Sie bringt das moralische Koordinatensystem Destinats durcheinander, symbolisiert in dem grauen Matsch ihrer Schuhe, der das klare Schwarzweiß seines Küchenbodens verwischt. Das Atmosphärische, weniger die Spannung, spricht für diesen indirekten Kriegsroman. Sein durch und durch fatalistisches Menschenbild legt er stellvertretend einer Marketenderin in den Mund: „Ich kenne keine Schweine und keine Heiligen. Nichts ist ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen. Du bist eine graue Seele, hübsch grau, wie wir alle.“

Dieses Buch bestellen Philippe Claudel: Die grauen Seelen. Roman. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Rowohlt Verlag, Hamburg 2004. 240 Seiten, 19,90 €.

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