
Rockstar Lectures: Wilco, Vicodin und der ganze Rest
Songwriter Jeff Tweedy enthüllt in seiner Autobiografie „Let’s go“ die Abgründe seines scheuen Charakters. Wie Angstzustände ihn in die Drogensucht trieben.
Mit den Büchern von Rockstars ist das so eine Sache. Meistens können Musiker ihr eigenes Leben nicht erzählen. Sie können schöne Songs schreiben, indem sie auf wenige Textzeilen bringen, was auch immer ihnen widerfahren ist. Mit diesen Fragmenten einer Lebensgeschichte muss die Welt dann erstmal klarkommen.
Aber ein ganzes Buch? Oft sind es nicht die besten Beweggründe, die Musiker an so etwas denken lassen. So hat sogar der passionierte Nichtleser Neil Young einmal eine Biografie geschrieben, und die ist eine wenig vergnügliche Lektüre. Einer, der Bücher verachtet wie Young, sollte die Finger davon lassen. So wie Brian Eno aufgehört hat, Interviews zu geben, weil er sagt: Wenn ich über meine Musik reden könnte, müsste ich sie nicht machen.
Bei Jeff Tweedy ist das anders. „Niemand will das Auge der Katze essen“, ist ein ziemlich guter erster Satz für die Autobiografie eines Musikers oder etwa nicht? Obwohl es anschließend vor allem um den Kuchen geht, der in Form eines Katzenmotivs in der Musikergarderobe wartete, als Tweedys Band Wilco gerade ein Album mit einem Katzen-Cover veröffentlicht hatte, so ist es doch ein gelungener Auftakt.
Denn – vergesst die Katze, vergesst den Kuchen: Hier erzählt einer, der das kann und sich deshalb den denkbar absurdesten Einstieg erlaubt. Einer, der sich als „gehemmter Mensch“ bezeichnet, was heißt, dass er von eigenartigen Schuldkomplexen geplagt wird und meistens Umwege geht. Einige haben sich als Abwege erwiesen und ihn zum Junkie werden lassen.
Was, bitte, ist "konfrontativ"?
Doch erstmal zurück zu den Büchern. In Tweedys Alltag nehmen sie einen wichtigen Platz ein. Er ist ebenso sehr von ihnen umgeben wie von E-Gitarren und Verstärkern. Im Proberaum seiner Band Wilco in Chicago stehen Regale vollgestopft mit Büchern. Tweedy nennt sie „Begleiter“.
Lange bevor er selbst Songwriter wurde, und manche halten ihn für den „besten Songwriter seiner Generation“, bildete der 52-Jährige seinen Musikgeschmack nur anhand von Artikeln im „Rolling Stone“ und anderen Musikmagazinen aus. Es war viel besser sich vorzustellen, was ein Wort wie „konfrontativ“ musikalisch bedeutete, als es dann tatsächlich zu hören. Weshalb es nur folgerichtig ist, dass der Wilco-Frontmann nun, nachdem er seine schwere Medikamentensucht und jahrelange Depressionen überstanden hat, eine literarische Vorstellung von der eigenen Existenz entwickeln will.
„Let’s go (so we can get back)“ ist in Stil und Haltung ein grandioses Stück praktizierten Slackertums. „Zu viel Ehrgeiz hat in meiner Branche keinen guten Ruf“, schreibt Tweedy einmal mit Blick auf seine Punk-Sozialisation. Da ist es natürlich als Autor nicht richtig, aus dem Erlebten ein Drama zu machen. Doch ist gerade der lakonische Ton mit seinen eliptischen Bögen geeignet, „Let’s go“ mit Hingabe zu lesen. Selbst wenn man keinen einzigen Wilco-Song kennen sollte, wird einem verständlich, woraus gute Musik entsteht.

Natürlich ist „Let's go“ auch Tweedys Versuch, den komplexen Ursachen für die Krisen in seinem Leben auf den Grund zu gehen. Aufgewachsen ist das jüngste von vier Kindern in Belleville, Illinois. Sein Vater ist Eisenbahner, ein Mann mit festen Gewohnheiten und unberechenbarem Temperament. Er trank und schlief, bevor er sich wieder zu dem Stellwerk begab, über das er die Aufsicht hatte. Die Mutter benutzte ihren Jüngsten als „Glücksbeschaffer“, wie der es ausdrückt, und gemeinsam terrorisierten sie den Alten mit ihrem Bündnis, das bis spät in die Nacht vor einem lärmenden Fernseher geknüpft wurde.
Punk war der Ausweg aus dieser kleinbürgerlichen Welt. Jeff fand einen Mitschüler, der ebenso dachte. Gemeinsam gründeten sie Uncle Tupelo. Das Trio mit Jay Farrar an der Gitarre, Jeff Tweedy am Bass und Drummer Mike Heidorn begründete das Genre des alternativen Country. Doch blieb die Beziehung der beiden Schulfreunde und WG-Kumpels angespannt. Sie konnten kaum Spaß miteinander haben. Obwohl sie etwas genuin Neues in die Welt gesetzt hatten, dachten sie fortgesetzt darüber nach, wie sie ihr Profil schärfen könnten.
„Let’s go“ räumt der komplizierten Beziehung zu Farrar und der unterwürfigen Rolle, die Tweedy dabei spielte, viel Raum ein. Man merkt, dass der Musiker in ihr angelegt sieht, was ihm später noch stärker zu schaffen machen sollte: der Wunsch, sich zu verstecken. Aber er schildert ebenso ausführlich die Konsequenzen, die sich für ihn aus der Trennung von Farrar 1994 ergaben.
Denn aus den Resten der Livebesetzung von Uncle Tupelo formte sich Wilco, eine Rockband, die im Umgang mit ihren Mitteln immer freier wurde. Das war gut für Tweedy. Trotz des wachsenden Erfolgs litt er jedoch an Angstzuständen und chronischer Migräne, die immer schlimmer wurden und die er mit starken Schmerzmitteln bekämpfte. Im Jahr 2000 war er Vicodin-süchtig.
Die Söhne wuchsen im Club auf
Es ist dieser Teil seiner Schilderungen, in denen sich der scheue Star besonders verletzlich und aufgeschlossen gegenüber seinen dunklen Seiten zeigt. Er tut dies indes ohne die exhibitionistische Lust an der seelischen Entblößung. Wie man überhaupt den Eindruck gewinnt, dass Tweedy zwar nicht unbedingt die charakterlichen Voraussetzungen für ein Leben im Showbusiness mitbringt, aber sehr wohl die, ein anständiger Mensch zu sein. Zumindest hat er die Kurve gekriegt, bevor er seine Familie zerstörte.

Man hat sich angewöhnt, Jeff Tweedys Vita in zwei Phasen aufzuteilen. Die eine bis Uncle Tupelo, und die andere danach.
Aber viel richtiger wäre wohl, von der Phase vor Susie Miller und der mit ihr zu sprechen. Was teilweise auf dasselbe hinausläuft. Denn von dem Tage an, da er in Chicago bei Susie einzieht, endet das dysfunktionale Leben des Country-Punks, der an der Seite seines notorisch übellaunigen Schulfreundes nur damit beschäftigt ist, dessen Stimmungen auszugleichen.
Nun haut er sich die Abende in dem Club um die Ohren, in dem seine Lebensgefährtin das Sagen hat. Das Lounge Ax. Und er freundet sich mit vielen Musikern an, „die gut genug waren, Susies Interesse zu wecken“, wie Tweedy schreibt. „Und wenn wir keine Freunde waren, dann waren wir wenigstens freundlich zueinander.“
Den loswerden, den er liebte?
Mit Susie Miller bekam Tweedy zwei Söhne, Spencer und Samuel. Der ältere wuchs praktisch im Lounge Ax auf, bis der Laden 2000 dicht machte. Miller erkrankte an Brustkrebs, zweimal durchlief sie die Therapie. Irgendwie jedoch schaffte es die chaotische Musikerfamilie all diese Krisen zu überstehen.
Wobei vielleicht das wichtigste für Tweedy war zu erkennen, dass er niemanden, den er liebte, loswerden musste, um sich von seiner Sucht zu lösen. Und sogar sein Vater, der die Karriere seines Sohnes stets interessiert, aber skeptisch verfolgt hatte, ließ sich schließlich eine seiner Songzeilen auf den Grabstein ritzen: „On and On and On.“ (Jeff Tweedy: „Let’s go (so we can get back)“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 300 Seiten, 22 Euro. Am Donnerstag 12.9.2019 spielt Tweedy mit Wilco im Tempodrom, Einlass: 19 Uhr)