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Kultur: Winterstürme, Wonnemond

Rattle und die Berliner Philharmoniker mit Henze und Strawinsky

Die Bürde, die auf den Schultern von Hans Werner Henze lastet, ist schwer. Von Deutschlands berühmtestem Komponisten erwartet die Welt keine Auftrags-, sondern Meisterwerke. Erst recht, wenn es um die Königsdisziplin der Klassischen Musik, die Sinfonie geht, soll jedes neue Henze-Werk nicht nur die Schaffenskraft des 77-Jährigen, sondern noch dazu die ungebrochene Gültigkeit der immer wieder totgesagten Großform beweisen. In seinem vorerst letzten Gattungsbeitrag, der Zehnten, nutzt der Altmeister die beiden bewährtesten Inspirations-Katalysatoren der sinfonischen Tradition: Die seit Beethoven feststehende klassische Proportionsformel: „Vier Sätze in vierzig Minuten“ und ein quasi romantisches Programm, das den Einzelsätzen Charaktere zuweist und zugleich für den Zusammenhang sorgt.

Ein mehrschichtig deutbares offenbar: Galt die Zehnte der Luzerner Premiere im vergangenen Jahr noch als musikalisches Porträt des Uraufführungsdirigenten Simon Rattle, steht in der Philharmonie der Ewigkeitsanspruch des Kunstwerks im Vordergrund: Die „Sturm“, „Hymnus“, „Tanz“ und „Traum“ bezeichneten Sätze stellen sich bewusst in Beethovensche Tradition, doch anders als beim Vorbild wollen sich die Zutaten nicht zum Ganzen fügen. Schöne melodische Einzeleinfälle und Orchestrierungseffekte funkeln als isolierte Lichtpunkte aus einer seltsam richtungslosen Notenmasse heraus. Konfliktfrei lagert sich der „Sturm“; steif stelzt, trotz umfänglicher Schlagzeugturbulenzen, der „Tanz“: gefährlich nahe am Apotheosenkitsch siedelt der „Traum“ – allein der langsame Satz gewinnt mit seiner herb zärtlichen Streicherkantilene die Gefühlstiefe, die Henzes Werke der Sechziger- und Siebzigerjahre prägte.

Dass Rattle und die Berliner Philharmoniker die Zehnte ausgerechnet mit Strawinskys „Sacre du printemps“ koppeln, lässt Henzes Werk freilich noch rückwärtsgewandter klingen: Hier der alte Meister, der Inspiration sucht, indem er sich an die Tradition klammert, dort der junge Wilde, der mit seinem revolutionären Jahrhundertwerk das Tor zur Neuen Musik aufstößt. Der „Sacre“ ist ein ideales Rattle-Stück – Sir Simons Strategie, durch Ausreizen der orchestralen Extreme Live-Ekstase zu erzielen, ist hier nicht nur erlaubt, sondern gibt dem Stück seine in den letzten 90 Jahren etwas matt gewordene tänzerische Prägnanz und eruptive Kraft erst zurück. Zum grenzenlosen Jubel des Publikums.

Jörg Königsdorf

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