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Kolumne „Mehrwert“, Folge 11: Über Pässe
Zugehörigkeit oder Abschottung, Abgrenzung oder Ausgrenzung, darum geht es im Kern bei vielen Debatten. Besser wäre es, auf das Verbindende zu setzen.

Stand:
Im Urlaub gewesen, Push-Meldungen abgeschaltet. Gerade noch am Strand gelegen, jetzt wieder das: Hunderte Tote im Mittelmeer, die Opfer des implodierten „Titanic”-Tauchboots, der Überlebenskampf nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine, 15 Jahre Haft für den iranischen Schwimmer Parham Parvari wegen „Kriegführung gegen Gott”.
Was geht mir nah, was liegt mir fern? Asylkompromiss, Heizungsgesetz, eine uniformierte Sportlerin, die schnellere Abschiebungen fordert und über „Gender-Gaga” schimpft? Der nächste Bahnstreik? Der kurze Wagner-Aufstand gegen Putin?
Wir oder die, ich und die anderen, auf Reisen verschiebt sich die Perspektive. Erstaunlich, in welchem Maß dieses „Wir oder die” die politische Agenda prägt. Zugehörigkeit oder Abschottung, Abgrenzung oder Ausgrenzung, darum geht es im Kern bei vielen Debatten.
Umso schöner, wenn auf der ersten Ferienstation Richtung Süden im Schweizer Bergdorf Romansch gesprochen wird. Statt mit „Grüezi” wird der Gast mit „Allegra” begrüßt, zum Dank heißt es „Grazcha fich”, sprich: Grazie fitsch. Kann man gar nicht aussprechen, ohne die Mundwinkel freundlich nach oben zu ziehen.
Man mag sie sofort, diese archaische Sprache mit den weichen Konsonanten, in der Europas Idiome sich mischen, Italienisch, Französisch, Deutsch und einiges mehr. Hier überquerten Menschen und Waren schon vor langer Zeit die Pässe, liefen sich Fremde auf abenteuerlichen Pfaden unweigerlich über den Weg.
Pässe, Pass: das doppelsinnige Wort bezeichnet die Verbindung zwischen Heimat und Fremde ebenso wie jenes einhegende und zugleich abgrenzende Dokument. Ich habe einen, du bekommst so schnell keinen. Wie gesagt, ohne Distinktion kann kein Mensch leben. Aber warum übertreiben?
Kleine Anekdote: Die lange Bahnfahrt von Berlin in die Schweiz verläuft superpünktlich. Auf die Minute genau passiert der ICE die Grenze, erst kurz vor Zürich bleibt er außerplanmäßig stehen - Anschluss verpasst. Dazu die mehrfach wiederholte Lautsprecher-Durchsage: „Schuld an der Verspätung ist ein Fehler im Ausland“. Vielleicht beginnt jede Diskriminierung damit, dass man das eigene Manko den anderen auf die Schiene schiebt.
Christiane Peitz schreibt in dieser Kolumne regelmäßig über Menschenrechte, Grundwerte und Diskriminierung.
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