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Ein somalischer Pirat an der Nordostküste des Landes, am Horizont ein Frachter. Das Bild stammt aus dem Jahr 2010.

© AFP/Mohamed Dahier

Das Jugendbuch "Auch junge Leoparden haben Flecken": Wo Schiffe versenken kein Spiel ist

Mein großer Bruder, der Piratenanführer: Andreas Brettschneiders Abenteuerroman "Auch junge Leoparden haben Flecken" spielt in Somalia.

Geedi hat die Sehergabe. Das Unglück kann er genauso kommen sehen wie die Routen der Schiffe auf See. Als eines Morgens einer der drei rostigen Tanker am Strand verschwunden ist, der „große blaue Tote“, wie die Kinder die Yusra nennen, weiß er sofort, hier stimmt etwas nicht. Etwas ist los mit seinem großen Bruder Aayan, der schon vor fünf Jahren verschwand. Im Dorf sagen sie, Aayan sei zu den Piraten gegangen.

Geedi ist 15, ein Junge aus Hafun, einer kleinen Insel am Horn von Afrika, im Nordosten Somalias. Der Bürgerkrieg ist weit weg, nicht aber das Elend. Verschmutzte Böden, umgekippte Gewässer im Golf von Aden und im Indischen Ozean, überfischt und zudem vergiftet vom Chemiemüll der Europäer – Landwirtschaft und Fischerei liegen brach. Geedis Eltern leben von der Hand in den Mund, machen Essen für die Clans.

Immerhin kann Geedi zur Schule gehen, anders als seine kluge kleine Schwester Amina. Aber er vermisst seinen Bruder, träumt davon, ebenfalls zu den Piraten zu gehen. Und siehe da, Aayan taucht überraschend zuhause auf. Prompt stiehlt Geedi sich auf dem Pick-up davon, als der Bruder in der Nacht wieder abgeholt wird. Die Seepiraterie in Somalia, das kriminelle Freibeuter-Leben als Abenteuerroman, geht das?

„In Somalia sind wir alle Piraten“, sagt Bruder Aayan. „Ob du in Puntland die Clans mit Festessen versorgst, ob du bei der Armee in Mogadishu kämpfst oder bei den Rebellen der Al Shabaab.“ Es sei das Schicksal der Kinder Somalias, „dass du immer das Falsche tust, obwohl es das Richtige ist“.

Bald tut auch Geedi das richtige Falsche. Er kapert Schiffe mit der Mannschaft der Yusra, und seine Sehergabe ist dabei eine große Hilfe. Er braucht nur die Augen zu schließen, um zu wissen, was gleich geschieht. Erweitertes Bauchgefühl nennt er das, er hat das Talent mit seinem Bruder gemeinsam. Geedi kann sogar Inseln ausmachen, die in keiner Seekarte verzeichnet sind.

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Es stellt sich heraus, dass Aayan niemand Geringeres ist als der legendäre Nidar, der „ehrenhafte“ Anführer jener Freibeuter, die zwar Frachtschiffe mit Motorbooten überfallen, um die Beute, Platin oder Gold, an Hehler zu verkaufen. Aber sie entführen keine Geiseln, um Lösegeld zu erpressen, anders als Dayax, der „böse“ Pirat.

Ein spannendes Actionabenteuer, das die Piraterie jedoch nicht verharmlost

Andreas Brettschneider, Jahrgang 1974, stellt sich in seinem Jugendroman „Auch junge Leoparden haben Flecken“ durchaus den moralischen Fragen, auch wenn er den Unterschied von Aayans Bande zu den skrupellosen, ihre Geiseln auch folternden und mordenden Piraten etwas zu sehr betont. Es ist die Not, die von der westlichen Welt mitverantwortete Not, die die Menschen in Somalia in die Kriminalität zwingt.

[Andreas Brettschneider: Auch junge Leoparden haben Flecken. Ueberreuter Verlag, Berlin 2022.192. S., 16 Euro. Ab 12 Jahre]

Gleichzeitig gelingt es ihm, ein aufregendes, action- und konfliktreiches, aber auch stimmungsintensives Abenteuer zu erzählen, ohne die Piraterie zu verharmlosen. In Lebensgefahr schweben, auch geliebte Menschen wie die kleine Schwester in Gefahr bringen. Schießen lernen, auf Schiffe wie auf Menschen. Opfer sein und Täter, erleben müssen, wie Menschen sterben – all das spart der Roman nicht aus. Er schaut genau hin, überfordert junge Leser jedoch nicht. Ob es den Horizont zu erkunden gilt, die eigenen Träume oder die Angst in den Knochen, es geschieht auf Augenhöhe mit Geedi. Mit einem Kind, das kein Kind sein darf.

Vor der Küste Somalias ist die Piraterie inzwischen Geschichte. Bis 2011 ein Hotspot, haben Marinestreitkräfte und private Sicherheitsdienste Schiffsüberfälle so gut wie unmöglich gemacht. Spielt der Roman also vor 15 Jahren? Heute müsste er eher am Golf von Guinea in Westafrika angesiedelt sein. Aber dort werden meistens mit Entführungen Geschäfte gemacht, und auch das mit deutlich sinkender Tendenz.
Mehr Kinder- und Jugendbücher finden Sie auf www.tagesspiegel.de/Kinderbuch-und-Jugendbuch

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