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Kammermusikerin. Franziska Pietsch, 51, lebt in Berlin.

© Sonja Werner

Wunderkind, Konzertmeisterin, Solistin: Kraft gibt nur die Musik

Die Berliner Geigerin Franziska Pietsch wurde in der DDR als Wunderkind gefördert. Als sich ihr Vater in den Westen absetzte, begann ein Alptraum.

Ein heiserer Ton, der Bogen zieht langsam über die Saite, die Violine erzählt von stillem Leiden. Dimitri Schostakowitschs 1968 komponierte Violinsonate ist ein Nachhall seines in ständiger Angst verbrachten Lebens. Der russische Komponist schlief im Mantel, ein gepackter Koffer stand unter dem Bett, weil er damit rechnete, dass er in ein Arbeitslager nach Sibirien abtransportiert werden würde – oder gleich erschossen.

Der zweite Satz der Sonate op. 134 ist eine einzige Panikattacke. Franziska Pietsch spielt die atemlosen Sechzehntel auf ihrem Album von 2019, als hätte sie die Kontrolle über ihren Bogen verloren: wild, hysterisch, aufgescheucht. Auch die 51-jährige Geigerin wurde jahrelang von dem Alptraum geplagt, dass jemand an die Tür klopft und sie abholt.

Das Vorzeigemädchen gerät unter Verdacht

Die Sonate hatte der Komponist für David Oistrach zu seinem 60. Geburtstag geschrieben. Als fünfjähriges Mädchen hörte Franziska Pietsch den russischen Geiger in Ost-Berlin – und war von seinem Ton so berührt, dass sie dieses Instrument auch lernen wollte.

Es begann eine Karriere als Wunderkind in der DDR, die von einem Tag auf den anderen ein jähes Ende fand, nachdem ihr Vater 1984 nach einer Streichquartett-Tournee im Westen geblieben war. Das Vorzeigemädchen geriet als potentielle Staatsfeindin unter Verdacht.

Zweieinhalb Jahre lang war die Musik von Johann Sebastian Bach und Dimitri Schostakowitsch das einzige, was der damals Vierzehnjährigen Halt gab. Zu dieser Zeit hatte sie schon einen wichtigen Wettbewerb in der DDR gewonnen und war bereits in der Violinklasse von Werner Scholz an der Hochschule für Musik Hanns Eisler.

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Als Mitglieder des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin durften die beiden Violine spielenden Eltern reisen und brachten ihr und der jüngeren Schwester von den internationalen Konzerttourneen Süßigkeiten mit, die für ein Jahr rationiert wurden.

Einige Lebensmittel schmuggelte man in Kontrabasskästen in die sozialistische Heimat. Und mit den Devisen, die sie nicht abgeben mussten, ging die Familie in einen Intershop, um West-Schokolade und Kaffee zu kaufen.

Die Pietschs waren privilegiert

„Aus heutiger Sicht waren die Geschäfte vielleicht so groß wie ein Kiosk“, erinnert sich die Geigerin. „Aber es roch sehr gut – ein ganz anderer Duft als in der DDR. Da roch es immer schrecklich.“ Die Pietschs waren privilegiert im Arbeiter- und Bauernstaat und genossen ihre kleinen Freiheiten.

Von den Fluchtplänen des Vaters erfuhr Franziska am Vorabend der Tournee. Gemeinsam hätten beide Eltern nicht fliehen können, sonst wären die Kinder in ein Heim gekommen. In den zahlreichen Verhören musste das Mädchen verschweigen, dass sie von der Flucht des Vaters wusste.

Die Geige durfte sie nicht auspacken

Wenn sie etwas verraten hätte, wäre die beantragte Familienzusammenführung chancenlos gewesen. Jede Woche hatte sie zum Violinunterricht zu gehen, durfte aber ihre Geige nicht auspacken. „Mein Professor fragte mich aus und sprach schlecht über meinen Vater. Diese warmherzige Vertrauensperson wurde über Nacht zum kühlen Handlanger des menschenverachtenden Systems. Das war für mich unbegreiflich.“

Mit niemandem konnte die Jugendliche über ihre Situation sprechen. Das Elternhaus wurde abgehört, sie selbst beschattet. Kraft fand sie in der Musik. Und in der Hoffnung, dass der Karlsruher Violinprofessor Ulf Hoelscher, der auf Vermittlung ihres Vaters bei ihnen zuhause klingelte, sie eines Tages in seine Klasse aufnehmen würde. „Das hat er mir versprochen, nachdem ich ihm vorgespielt hatte. Und mich umarmt.“

[Franziska Pietschs Album „Fantasque“ mit Violinsonaten von Fauré, Debussy, Ravel und Poulenc ist bei Audite erschienen.]

Zweieinhalb Jahre später wurde die Familienzusammenführung bewilligt. 24 Stunden Zeit hatte die Familie, um ihre Sachen zu packen. Nach einem Violinstudium in Karlsruhe ab dem Wintersemester 1986 und einem Aufbaustudium an der Juilliard School in New York entschied sich Pietsch bewusst gegen eine solistische Laufbahn. „Ich fühlte mich in dem Klassikzirkus überfordert.“

Als Konzertmeisterin in Wuppertal und Luxemburg suchte sie einen „unbelasteten Raum“ für sich, um ihre Vergangenheit verarbeiten zu können. Seit 2010 widmet sie sich der Kammermusik und hat mit dem Klaviertrio Testore und dem Streichtrio Lirico, in dem ihre alte Berliner Schulfreundin Sophia Reuter Bratsche spielt, zwei Ensembles gegründet. Inzwischen steht sie auch wieder als Solistin auf der Bühne. Die Zeit heilt Wunden.

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