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Kultur: You can win, if you want

Die Phono-Industrie klagt über Umsatzeinbußen. Aber für deutsche Künstler boomt der MarktRalph Geisenhanslüke Viele Plattenläden haben neuerdings ein Problem: Es werden massenweise leere Hüllen gestohlen, manchmal sogar nur die kleinen Textheftchen.

Die Phono-Industrie klagt über Umsatzeinbußen. Aber für deutsche Künstler boomt der MarktRalph Geisenhanslüke

Viele Plattenläden haben neuerdings ein Problem: Es werden massenweise leere Hüllen gestohlen, manchmal sogar nur die kleinen Textheftchen. Die CDs brauchen die Diebe nicht mehr. Sie wird mit Hilfe von Computern oder CD-Recordern preiswert überspielt. Besonders an Schulen florieren Handel und Tausch mit Raubkopien, meldet der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft. Die notwendige Technik steht zwar längst nicht in jedem Haushalt, doch hat die "Schulhofpiraterie" ein Ausmaß erreicht, bei dem der Verband von "dezentraler Wirtschaftskriminalität" spricht. Die deutsche Musikindustrie braucht Erklärungen, denn es geht ihr schlecht: Um 9,8 Prozent ließ der Absatz von Tonträgern im ersten Halbjahr 1999 nach.

Die CD, vor 16 Jahren eingeführt, hat die Plattenfirmen in den achtziger Jahren weltweit aus einer Talsohle gerettet. Nun verkehren sich ihre Vorteile ins Gegenteil: Digital gespeicherte Musik ist nicht nur komfortabler und haltbarer, sie lässt sich auch ohne Qualitätsverlust kopieren. Doch das Urheberrecht erlaubt Kopien ausschließlich "zum privaten Gebrauch". Bei strenger Auslegung ist es nicht einmal erlaubt, sie zu verschenken. Wer eine CD im Laden kauft, erwirbt das Eigentum an einer Plastikscheibe. Die Musik gehört weiterhin dem Musiker oder seinem Verlag. Wer mit Kopien handelt, bestiehlt nicht nur die Plattenfirma, sondern auch den Musiker, der keine Tantiemen erhält. Doch die Verfolgung kleiner Verstöße ist so gut wie aussichtslos. Man muss sich schon mit Schwarzgebranntem auf den Flohmarkt stellen, um Bekanntschaft mit Fahndern der Phono-Industrie zu machen.

Diese durchkämmen schon seit langem das Internet, wo der zweite Hauptschuldige für den Umsatzrückgang vermutet wird: MP3. Dieses Kürzel steht für ein Dateiformat, bei dem Audio-Daten auf sogenanntes 1/11 komprimiert werden. Ein Encoder-Programm filtert die vermeintlich unhörbaren Töne aus der Musik heraus, zum Beispiel leise Töne aus lauten mit einer ähnlichen Frequenz. Die geschrumpfte Musik braucht weniger Speicherplatz und lässt sich leichter im Internet übertragen. So leicht, dass der Phonoverband abwechselnd von einer "Flutwelle" oder einem "schnell wachsenden Krebsgeschwür" spricht. Das Internet ist zur Jukebox geworden - World Wide Wurlitzer. Nach Einschätzung der RIAA (Recording Industry Association of America) stellen etwa 30 000 Webseiten illegale Musiktitel ins Netz.

MP3.com hingegen beschränkt sich auf legale Angebote und präsentiert die Straßenmusikanten an der Infobahn: überwiegend unbekannte Musiker, die darauf warten, entdeckt zu werden. MP3.com arbeitet wie eine Schmalspur-Plattenfirma und brennt die Songs auf Wunsch auch auf CD. 1997 wurde die Seite eröffnet, mittlerweile verzeichnet sie jeden Tag mehrere Hunderttausend Zugriffe. Beim Börsengang im Juli dieses Jahres kamen knapp 640 Millionen Mark zusammen. Auch Musiker schätzen die Verbreitungsmöglichkeiten im Netz. Als Public Enemy Ende letzten Jahres Ärger mit ihrer Plattenfirma bekamen, weil sich die Veröffentlichung ihres Albums "Bring The Noise 2000" verzögerte, stellten sie die Musik kurzerhand auf ihre Website. 36 Stunden dauerte es, bis die Anwälte der Plattenfirma den direkten Draht zwischen Musikern und Fans kappten. Bei herkömmlichen Plattenproduktionen fallen für die Musiker 10 bis 15 Prozent des Verkaufspreises ab. Bei MP3.com ist es die Hälfte. Normalerweise muss eine Band rund eine Million Alben verkaufen, um 100 000 Dollar zu verdienen. Nach dem Vertriebsmuster von MP3.com würden 200 000 Stück genügen. Und keine Plattenfirma könnte mitverdienen.

Wer sich einmal die Mühe gemacht hat, eine der immer noch 4 bis 5 MB großen Dateien zu laden und anzuhören, kann sich kaum vorstellen, dass sie in ihrer bisherigen Klangqualität den Ruin der Musikindustrie verursachen könnten. Schlappe Dynamik und fehlende räumliche Auflösung sind nur die ohrenfälligsten Mängel. Menschen mit viel Zeit und wenig Geld können sich vielleicht auf diese Art musikalisch versorgen. Aber von CD-Qualität ist MP3 noch weit entfernt. Ein weiterer Nachteil: Die Dateien waren bislang nur auf Computern oder portablen, Walkman-ähnlichen Playern abspielbar. Sie speichern die Musik in RAM-Chips - bislang maximal 30 Minuten - und sind nach Ansicht der Zeitschrift "Stereoplay" schlicht "praxisuntauglich". Doch kommen in diesem Herbst die ersten CD-Player auf den Markt, die auch CD-ROMs mit MP3-Dateien abspielen: Damit sind 12 Stunden Musik von einer einzigen Scheibe möglich.

Allerdings nicht, wenn man die MP3-Datei legal bei "Audio On Demand" erworben hat, einem Netzangebot der Telekom, das in enger Abstimmung mit der Phono-Industrie entstand. Hier braucht man nicht nur einen T-Online-Account und einen ISDN-Anschluß. Die Musik, teuerer als von einer CD aus dem Laden, läßt sich auch nur auf einem Rechner abspielen. Eine andere Technik, das sogenannte "digitale Wasserzeichen", speichert persönliche Daten und Kreditkartennummer des Kunden unhörbar in den Musikdaten. Sie sind sogar noch aus analogen Kopien herauszulesen.

Die Phono-Industrie möchte um jeden Preis den Daumen drauf haben, besonders bei technischen Entwicklungen, die sie weitgehend verschlafen hat. Im Schlaraffenland Pop kannte man seit den Achtzigern nur steigende Umsatzkurven. Nun bricht die digitalisierte Realität der späten Neunziger herein. Die wirklichen Piraten stehen nicht auf dem Schulhof. Sie handeln auf internationalem Parkett: In Russland sind nach einer Schätzung der IFPI (International Federation of The Phonographic Industry) drei Viertel aller erhältlichen Tonträger Raubkopien. 350 Millionen illegal produzierte CDs, so die Schätzung, sind weltweit im Umlauf - zumeist in Osteuropa, Asien und Afrika, wo internationale Urheberrechts-Bestimmungen nicht durchzusetzen sind.

Schon einmal, in den siebziger Jahren, malte die Musikindustrie den Teufel an die Wand. Damals wurden Cassetten erschwinglich. Insgesamt hat das den Umsatz befeuert. Man musste schließlich erst einmal etwas zum Überspielen haben. Auch Systeme wie DAT (Digital Audio Tape) und die Minidisc von Sony, die sich allmählich auch in Deutschland durchsetzt, werden dem Umsatz wohl genauso wenig schaden, wie der Videorecorder das Ende des Kinos einläutete. CD-Brenner und illegale MP3-Verbreitung müssen als Buhmänner für andere Entwicklungen herhalten. Nur gut die Hälfte der Deutschen, die immerhin den drittgrößten Markt der Welt ausmachen, kauft mindestens einmal pro Jahr einen Tonträger. Intensivkäufer - das ist man in den Augen der Marktforscher schon, wenn man sich mindestens neun Titel pro Jahr zulegt - sind nur sechs Prozent der Bevölkerung. Im "insgesamt flauen Konsumklima", das der deutsche Phono-Verband schon im letzten Jahr ausgemacht hatte, verschieben sich einige Prioritäten: Medienorientierte, kaufkräftige, junge Menschen, die Lieblinge von Werbung und Wirtschaft, geben ihr Geld häufiger für Computer und PC-Spiele aus. Lara Croft gegen Madonna heißt das Match um die schwächelnde deutsche Kaufkraft, die in der ersten Jahreshälfte immerhin noch für 114 Millionen Tonträger reichte.

Deutsche Interpreten aber können frohlocken. Bei den Alben machen sie knapp ein Drittel der Chart-Notierungen aus, bei den umsatzträchtigen Singles sogar knapp die Hälfte. Darunter sind nicht nur die notorischen Modern Talking, Wolfgang Petry, PUR, Westernhagen und Grönemeyer. Auch der Nachwuchs mischt in der HipHop- und Dancefloor-Ecke kräftig mit. Bedanken können sie sich dafür beim nationalen Video-Sender Viva. Das Radio, aus dem allerorts die gleiche Top-40-Pampe kleckert, hat als Mittler zwischen Musikern und Konsumenten ausgedient, sagt sogar die Industrie.

Eine Quote für deutsche Produktionen, wie sie vor einigen Jahren diskutiert wurde, brauchen höchstens die Lobbyisten, die solche Debatten lostreten. Die Deutschen scheinen zufrieden mit ihrer Popmusik. Ob sie allerdings auch im Ausland geschätzt wird? Die Britische Regierung meldet stolz, Pop-Musik trage nach Abzug aller Zahlungen ins Ausland soviel zum Außenhandelsüberschuss bei, wie die Stahlindustrie: 1,52 Milliarden Mark - mehr, als mit Tonträgern im Land umgesetzt wird. Für Deutschland existieren solche Zahlen bislang nicht. Offenbar fragt auch niemand danach. Was wird aus der Popmusik?

Ralph Geisenhanslüke

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