
© Yuriy Gurzhy
Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (113): Der Kampf geht weiter, egal wo
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
Im Dezember 2021 war ich kurz in Mykolajiwka, um für die Live Premiere unseres Albums „New Donbass Symphony“ zu proben. Die Songs dafür nahmen wir ein Jahr früher mit ukrainischen Schülern an fünf Orten vom Donbass auf. Sie davor auf der Bühne zu performen, davon konnten wir damals, mitten im ersten Lockdown nur träumen.
Zwölf Monate später sah es schon anders aus. Als ich Mikolajiwka erreichte, hatten wir mit den Teilnehmer*innen eine Telegram-Chat-Gruppe erstellt, um Probezeiten zu kommunizieren. Am 23. Februar 2022 verfolgte ich die beängstigenden Nachrichten aus dem Donbass und fragte im Chat, wie die Lage ist.
Es folgte dieser Austausch:
– Die Nacht war ruhig, einigermaßen
– Und wir werden gerade beschossen. Einige Häuser brennen
– Shit! Seid Ihr im Keller?
– Nee, bis jetzt im Abstellraum
Den Screenshot davon schickte ich am selben Abend meinem Freund, dem Odessaer Künstler Nikolay Karabinovych. Heute glaube ich, wir wussten beide, was als Nächstes kommt, wollten es aber nicht glauben. Das Erste, was ich am frühen Morgen des 24. Februar sah, war eine neue Nachricht in unserem Chat von Nikolay. „Verfickte Scheiße.“ Mir war sofort klar, was er damit meinte.
Dieser verfluchter Tag! Ich wünschte, ich wäre heute überhaupt nicht aufgewacht, doch stattdessen gebe ich schon um fünf Uhr morgens auf weiterzuschlafen – genau wie vor einem Jahr. Die Erinnerungen kommen hoch, ich brauche dringend eine Ablenkung.
Ich stehe auf, koche einen Espresso und schalte den Rechner ein. Gestern habe ich Wasil Rjabko versprochen, den Song seiner Band Kapa Karlo über Charkiw, die Stadt aus Stahl und Beton, zu remixen. Auf meine Frage, wann es fertig sein sollte, lautet seine Antwort: „So schnell wie möglich.”

© Yuriy Gurzhy
Obwohl ich im Moment recht viel um die Ohren habe, setze ich mich an die Arbeit, stelle die ersten 16 Takten des Liedes auf Schleife und überlege, was ich dazu beitragen könnte, probiere neue Beats und Basslines aus. Eine Stunde vergeht, beim Hören der ersten Ergebnissen bin ich noch nicht zufrieden. Aber erst jetzt fällt mir auf, was für eine Zeile ich mir bestimmt schon über 100 mal angehört habe: „Am 24. Februar trafen wir auf den bösen Feind.“ Den 24. Februar mit dem Song über den 24. Februar zu beginnen – ein Zufall?
Ich mache weiter, bis ich feststelle, dass mein Zug nach München in weniger als einer Stunde abfährt und ich noch nicht gepackt habe. In fünfzig Minuten bin ich am Hauptbahnhof. Die sechsstündige Fahrt verbringe ich mit Sasha Marianna Salzmann – das Beste, was mir an diesem beschissenen Tag passieren kann. Sasha war eine der ersten unter meinen Freund*innen, die gleich zu Beginn der Kriegseskalation einen konkreten Plan hatte.
In nur wenigen Tagen hatte sie eine Veranstaltung im Gorki Theater mitorganisiert, bei der Spenden gesammelt wurden. Ich war dabei und habe etwas von Serhij Zhadan vorgelesen, glaube ich – so richtig kann ich mich nicht daran erinnern. Es fühlt sich so an, als ob nicht ein, sondern zehn Jahre vergangen sind, so viel ist in der letzten Zeit passiert.
Sasha und ich, wir haben uns lange nicht gesehen. Und es tut gut, einfach Zeit miteinander zu haben, über alles sprechen zu können. Als ich die Einladung der Münchner Kammerspiele für die Diskussion am 24. Februar erhielt, sagte ich sofort zu, als ich erfuhr, dass Sasha auch dabei sein würde.
Schade, dass wir die Berliner Demo am Cafe Kyiv verpassen, ich wäre gern dabei gewesen. Dafür schaffen wir es zur Kundgebung am Marienplatz in München. Auch hier sehe ich bekannte Gesichter. Yulana Abrashchova, die wie ich,aus Charkiw kommt, erzählt mir, dass in München zwei ganze Klassen der 27er Schule aus unserer Heimatstadt untergekommen sind, ebenso viele Studenten der Nationalen Karasin Universität. Einige ihrer Freunde sind heute nach Berlin gefahren, um an der dortigen Demonstration teilzunehmen.
Der Krieg ist noch nicht gewonnen, der Kampf geht weiter und egal, wo wir sind – wir halten zusammen, ob Kiew, Charkiw, Berlin oder München. Zusammen sind wir stark!
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