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Probe in Bautzen.

© Yuriy Gurzhy

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (76): Tränen für Popasna in Bautzen

Der ukrainische Autor, DJ, und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

17. bis 19. 10. 2022
Der Polizist weiß nicht genau, wogegen protestiert wird, schreibt mir meine Kollegin Silvia, während ich erstaunt die Demonstration aus dem Fenster unseres Hotels im Zentrum von Bautzen beobachte. Wir sind heute aus Berlin angereist und haben den Tag im Theater verbracht.

Auf dem Rückweg meinte Silvia, sie würde gern die Stadt erkunden, während ich direkt aufs Zimmer ging – kaum fünf Minuten später sah ich die Menge draußen. Manche Demonstrierende halten russische Fahnen, ihre Slogans kann ich aus der Ferne nicht verstehen. Dann stelle ich dank einer schnellen Google-Suche fest, dass es die traditionelle Montagsdemo ist. Ach so.

Gegen die Energiekrise und die Inflation – mit russischen Fahnen? Ich bin skeptisch, ob es hilft. Und natürlich denke ich sofort an die ukrainischen Kids, mit denen ich gerade fünf Stunden geprobt habe. Ich hoffe, sie haben einen anderen Weg nach Hause genommen und mussten die russische Flaggen nicht sehen.

Im Hotel habe ich den Eindruck, die Zeit ist stehen geblieben. Sparsam beleuchtete verrauchte Flure wie aus einer Stephen-King-Verfilmung, Staub auf den bunten Wänden meines Zimmers, der mit merkwürdigen alten Puppen dekorierte Frühstücksraum und dazu eine passende Playlist, bei der es keinen Song gibt, der nach 1984 entstanden ist.

In welchem Jahr sind wir, frage ich Silvia, während aus dem Lautsprecher über unserem Tisch Dschinghis Khan „Moskau, Moskau“ singt. Dann erinnere ich mich an die Demo und bekomme mehrere Nachrichten im Chat unseres ukrainischen Teams – und ich weiß wieder, draußen ist nach wie vor 2022.

Am Mittwoch führen wir unsere „New Donbass Symphony“ im Burgtheater bei der Eröffnung des Willkommen Anderswo Festivals auf. Die Lieder für dieses Album habe ich zusammen mit Schüler*innen aus fünf Städten und Dörfern des ukrainischen Donbass im Herbst 2020 geschrieben: Popasna, Komyschuwakha, Mykolajiwka, Rajhorodok, Troitske.

Diese Namen sind in den vergangenen Monaten oft in den Nachrichten über den Krieg in der Ukraine zu hören. Manche Schulen, an denen wir an unseren Liedern gearbeitet haben, sind inzwischen zerstört. Der Direktor der Schule in Popasna, Viktor Schulik, wurde vorletzte Woche im Kampf gegen die Besatzer bei Bakhmut getötet.

Viele mussten ihr Zuhause im Donbass verlassen und fliehen, unter ihnen auch die Familien unserer Projektteilnehmer*innen. Manche sind in Bautzen und in den Nachbarstädten gelandet.

Wir haben uns das letzte Mal in Mykolajiwka gesehen, wo ich Anfang Dezember 2021 war – dort haben wir geprobt in der Hoffnung, demnächst mit unseren Songs auf Tour zu gehen, wie wir es ursprünglich 2020 geplant hatten.

Doch wegen der Pandemie konnten wir das nicht mehr umsetzen. Vielleicht hätten wir „New Donbass Symphony“ sogar in Deutschland präsentieren könnten, meinte Georg Genoux, der deutsche Theaterregisseur, der dieses Projekt initiiert hat und seit 2015 jedes Jahr in den Donbass gereist ist, um mit den Kindern zu arbeiten.

Darf man sagen, dass die Träume wahr werden? Hier sind wir auf einer von Scheinwerfern beleuchteten Theaterbühne in Deutschland und unsere Lieder erklingen aus den Boxen so laut und so klar, wie man sie noch nie erlebt hat. Und doch hat das Ganze einen bitteren Beigeschmack.

Und wenn bei unserem fröhlichen Song über „Miss Popasna“ auf der Leinwand ein in Popasna gefilmtes Video läuft, und alle, die gerade auf der Bühne stehen, wissen, dass die meisten Orte, die dort vorkommen, zerstört sind, stelle ich fest, dass ich bin nicht der Einzige bin, der mit den Tränen zu kämpfen hat.

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