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Dezember 2022 in Charkiw

© Yuriy Gurzhy

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (96): Auf den Straßen, in der U-Bahn, auf der Bühne

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

Stand:

10.12.2022. Charkiw

„OK, was unternehme ich heute in den wenigen Stunden, die ich vor der Probe frei habe?”, überlege ich im Restaurant des Hotels, in dem ich dieses Mal ganz allein das Frühstück genieße. Vier deutsche Journalisten, die ich gestern getroffen habe, seien abgereist, sagt Anna, die omnipräsente Hotelfee, die mir das Käseomelett und die Syrniky bringt. Beides schmeckt hervorragend, wie zu Hause - nur bin ich zu Hause natürlich zu faul, um mir sowas zu machen, denke ich, und würde auch nie zum Frühstück so einen Soundtrack auflegen.

Wahrscheinlich läuft eine andere CD vom dem Orchester, das gestern seine Versionen von Beatles-Songs spielte, heute ist es „Bridge Over Troubled Water“ von Simon & Garfunkel. In der Ukraine, ist mir in den letzten Tagen aufgefallen, klingt jeder Song anders - als ob er eine zusätzliche, neue, oft etwas apokalyptische Dimension bekommen würde…

Ein Tannenbaum im U-Bahnhof

Mit dem letzten Schluck Espresso steht mein Plan. Ich werde in die Gegend meiner Kindheit fahren, zum Haus der Großeltern, wo ich bis 1988 auch gelebt habe. Heutzutage kommt man dahin bequem mit der U-Bahn. Die kann man gerade, so wie andere öffentliche Transportmittel in Charkiw, umsonst fahren, wie mir gestern jemand erzählt hat. 

Am U-Bahn-Gleis sehe ich zuerst einen riesigen, festlich geschmückten Tannenbaum. Dass er dieses Jahr nicht auf dem Freiheitsplatz, wie alle Jahre davor, sondern im U-Bahn-Bahnhof installiert wird, habe ich vor 40 Minuten in den Nachrichten gelesen. Das wirkt etwas ungewöhnlich. Viel wichtiger ist dabei natürlich, dass Charkiwer sich hier, 30 Meter unter der Erde, in Sicherheit fühlen können. 

Die Züge fahren seltener als sonst, sind aber trotzdem nicht voll. In fünfzehn Minuten erreiche ich die Straße des 23. August. Zwischen der Rolltreppe und dem Ausgang stehen mindestens fünf Zelte mit Matratzen dazwischen - offensichtlich gibt es immer noch Menschen, die in U-Bahnhöfen wohnen und Angst vor dem Leben oben in der Stadt haben. 

Vor einem Jahr war ich hier, bei meinem letzten Charkiw-Besuch, habe aber seitdem dutzende Bilder dieser mir so vertrauten Umgebung gesehen - auf Facebook und Instagram meiner Freunde und auch in der Presse.

Neben den Kiosken an der Außenseite vom kleinen Markt muss ich an das Foto auf der Webseite einer deutschen Zeitung denken, das ich im Frühling sah. Es wurde nach dem russischen Raketenbeschuss gemacht - eine teilweise bedeckte Leiche auf dem Gehweg. Sie lag genau dort, wo ich gerade stehe, vor dem Blumenkiosk. Unser Haus liegt direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Es ist noch da und scheint unbeschädigt zu sein. 

Ich laufe weiter, an dem Kino vorbei, in dem mein Vater und ich uns in den frühen Achtzigern fast jedes Wochenende einen Film angeschaut haben. Daneben steht das Haus mit dem albernen sowjetischen Mosaik, Anfang Mai wurde es von einer russischen Bombe getroffen.

Gesunkene Mietpreise in Charkiw

Auf den Bildern im Netz sah ich, dass die vordere Hausmauer komplett ruiniert war - inzwischen ist sie wieder komplett restauriert. Schaut man genauer hin, sind die Spuren der Bombardierungen in diesem Kiez nicht zu übersehen: Sperrholz statt Glas in den Fenstern, kaputte Balkone, abgefallene Buchstaben auf den Schildern. 300 Meter weiter stoße ich auf eine zerstörte Schule. 

In einem winzigen Cafe um die Ecke komme ich ins Gespräch mit dem jungen Barista. Ich frage ihn, wie er die Lage in den letzten Monaten einschätzt. Er klingt entspannt, sagt, dass jetzt die beste Zeit sei, sich eine Wohnung in dieser Gegend zu mieten, da sie regelmäßig beschossen wurde. Die Mietpreise seien stark gesunken.       

Serhij Zhadan, mit dem wir heute Abend ein Konzert spielen, ist erst vorgestern von einer langen europäischen Tour mit seiner Band zurückgekommen. Für die Spenden, die er bei den Auftritten gesammelt hat, wurden vor allem Drohnen und Wärmebildkameras eingekauft. Einige davon hat Serhij zur Probe mitgeschleppt, nach und nach werden sie abgeholt, während wir auf der Bühne unsere Songs üben. 

Heute ist mein letztes Konzert dieses Jahr, und es ist mir eine große Ehre, sie in meiner Heimatstadt zu spielen, in der unbesiegten Stadt der Helden.

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