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Im Schlachtgeschehen. Angriff einer russischen Einheit bei Stalingrad. Foto: dpa

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Kultur: Zeugen der Front

Jochen Hellbeck und Felix Römer geben den einfachen Soldaten der Roten Armee und der Wehrmacht eine Stimme.

Die Schlacht um Stalingrad ist in Deutschland bisher vor allem aus deutscher Perspektive wahrgenommen worden. Überlebende der Wehrmacht haben für Dokumentationen ihre Geschichte erzählt. Sowjetische Soldaten kamen hingegen kaum zu Wort – aber nicht, weil man ihnen nicht zuhören wollte. Ihre persönliche Sicht der Ereignisse wurde von Moskau weder der eigenen noch der westlichen Öffentlichkeit präsentiert, schon gar nicht in Form von privaten Aufzeichnungen und Gesprächsprotokollen. Stalin hatte den Sieg über Hitler für sich reklamieren wollen. Stimmen seiner Landsleute zur Schlacht um die Stadt seines Namens sah er wegen der Vielschichtigkeit und Offenheit der Äußerungen als Bedrohung für die offizielle sowjetische Geschichtspropaganda.

Umso wertvoller erscheinen die Auszüge aus Augenzeugenberichten russischer Soldaten, die Jochen Hellbeck nun versammelt. Der an der amerikanischen Rutgers University lehrende Historiker und Slawist hat sich bereits in zahlreichen Veröffentlichungen mit Moskauer Tagebüchern aus der Stalinzeit und autobiografischen Praktiken in Russland beschäftigt. Nun ist ihm ein Fund gelungen, der weit über seine Fachgrenzen hinweg aufhorchen lässt: Bereits Ende Dezember 1942 war eine Gruppe von Moskauer Historikern nach Stalingrad gereist, um aus nächster Nähe den Kampf zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee zu verfolgen. Denn einen Monat zuvor war es den Sowjets gelungen, mehr als dreihunderttausend Soldaten der Deutschen und ihrer Verbündeten einzukesseln.

Die russischen Historiker besuchten in Stalingrad verschiedene Frontabschnitte: In Schützengräben und Unterständen sprachen sie mit Kommandeuren, Offizieren und Soldaten der Roten Armee. Eine eigens mitgereiste Stenografin verfasste die Gesprächsprotokolle. Einen Tag vor der sowjetischen Schlussoffensive zur endgültigen Vernichtung des Kessels reiste die Historikergruppe ab, um dann nach dem Ende der größeren Kampfhandlungen im Februar 1943 zurückzukehren und die Gespräche fortzusetzen. In den folgenden Wochen und Monaten entstanden Interviews mit insgesamt 215 Augenzeugen.

Diese Berichte führen nach Hellbecks Forschungserfahrung näher an das Schlachtgeschehen heran und vermitteln ein plastischeres und tiefenschärferes Bild von den Handlungen, Gedanken und Gefühlen sowjetischer Kriegsteilnehmer als jede andere bekannte Quelle. Als Leser glaubt man bisweilen, einer Tonbandaufzeichnung zuzuhören, derart direkt und authentisch erscheinen die Aussagen der Zeitzeugen, die von ihrer Herkunft, ihrem Weg in den Krieg und ihren soldatischen Aufgaben berichten. Das Kampfgeschehen wird überaus offen und hautnah beschrieben. Momente des Schreckens, aber auch Kampfhandlungen, in denen die Erzähler scheinbar ein erhebendes Gefühl erlebten, kommen zur Sprache. Stärken wie Schwächen der sowjetischen Kriegsführung werden erläutert. Erworbene Auszeichnungen spielen ebenso eine Rolle in den Schilderungen wie die Handlungen von „Helden“ und „Feiglingen“ in den jeweiligen Kampfeinheiten.

Für Hellbeck sind diese Gespräche auch deshalb eine einzigartige Quelle, weil die sowjetischen Historiker in Stalingrad nacheinander viele Menschen interviewten, die Seite an Seite gekämpft hatten, und die einzeln befragten Soldaten in ihren Gesprächen aufeinander Bezug nahmen. In Hellbecks Augen beschwören die authentischen und differenzierten Aussagen der Interviews daher in ihrer Gesamtheit eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung, wie er sie sonst nur aus Dramen oder Romanen zu kennen glaubt.

Und in der Tat: Die Offenheit der Aussagen in den Interviews von sowjetischen Historikern, die der „Kommission zur Geschichte des Vaterländischen Krieges“ unter Federführung des Moskauer Geschichtsprofessors Isaak Minz angehörten, überrascht an vielen Stellen. So berichtet beispielsweise der Regimentskommandeur Alexander Gerassimow ganz unverblümt von Kriegsverbrechen auf sowjetischer Seite: „Gefangene hatten wir keine, weil unsere Rotarmisten und Kommandeure wie Fallschirmjäger ausgebildet waren. Erstens können die keine Gefangenen machen, weil sie im Hinterland des Gegners operieren, sie müssen die Leute liquidieren. So wurden unsere Männer ausgebildet. Deshalb machten unsere Rotarmisten und Kommandeure keine Gefangenen, sie liquidierten.“

Aus der Summe von derlei individuellen Erzählprotokollen entsteht für Hellbeck ein fein gerastertes, multiperspektivisches Bild von Soldaten im Schlachtgeschehen – ein Bild, das ihn nicht nur durch Plastizität beeindruckt, sondern ihm auch geteilte Erfahrungsräume aufzeigt und selbst dem militärischen Laien auf plausible Art deutlich werden lassen dürfte, wie die Rote Armee als Kampfverband funktionierte.

Wie ihr deutscher Gegner dachte, wie die Soldaten der Wehrmacht den Krieg erlebten und verarbeiteten, zeigt ein anderer Quellenschatz, der nun von Felix Römer gehoben wurde. Der Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in London hat als erster Historiker zehntausende Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener ausgewertet. Denn zwischen 1942 und 1945 hörte der amerikanische Nachrichtendienst im Geheimlager Fort Hunt bei Washington mehrere tausend gefangengenommene Soldaten der Wehrmacht heimlich ab. Die Analyse dieser Aufzeichnungen ermöglicht Römer, einen Blick in das Innere des einfachen deutschen Soldaten zu werfen. Denn untereinander erzählten sie sich nicht nur ihre Fronterlebnisse, sondern prahlten auch mit ihren Taten und zum Teil mit schrecklichen Verbrechen. Und nicht zuletzt: Sie offenbarten ihren Kameraden ihre geheimen Ängste und ihre wahre Haltung zu Hitlers Regime.

Indem Römer die Aussagen der deutschen Soldaten in den Kontext ihrer Biografien einordnet, werden ihre Lebensumstände und Handlungsspielräume, ihr Denken und Handeln überaus anschaulich vor Augen geführt. So ist es zum Beispiel ein großer Gewinn, als Ergänzung zu Hellbecks Stalingrad-Protokollen bei Römer die deutsche Sicht der Kämpfe an der Ostfront ungefiltert lesen zu können. Hier ist auffällig, wie wenig die nationalsozialistische Propagandasprache vom „Untermenschen“ oder „Bestien“ von den Wehrmachtsangehörigen übernommen und wie realistisch die Kampfkraft der Roten Armee nach anfänglicher Unterschätzung bewertet wurde.

Allerdings betont Römer, dass es in der Konfrontation an der Ostfront zwischen deutschen und sowjetischen Soldaten höchstens den Respekt vor den todbringenden Waffen des Gegners gegeben, ihr Kontakt aber kaum zu einer Normalisierung ihrer Feindschaft geführt habe. So urteilte der Gefreite Heinz Balcerkiewicz über die Rotarmisten: „Die Russen kämpfen mechanisch in Massen, weil sie dazu gezwungen werden. Außerdem kämpfen die Russen mit Messern und sind sehr heimtückisch.“ Er zeigte sich empört über die Tatsache, dass in der Roten Armee auch Frauen kämpften.

Welche Dramen sich bei den schweren Rückzugskämpfen der Wehrmacht gegen die vorrückende Rote Armee abgespielt haben, wird beim Soldaten Alfons Römer deutlich: „Mensch, die Tragödie hättest du sehen sollen, von zurückflutenden Landsern. Da haben sie am Weg gestanden, wie wir vorbeikamen in den Lkws, und haben die Hände gefaltet und gebetet: Bitte nehmt uns doch mit. Und man konnte nicht anhalten, sonst wären wir selbst nicht mehr rausgekommen. Da sind manche gegangen und gegangen, schon halb verschneit, bis sie nicht mehr weiterkonnten, bis es ihnen schwindlig wurde. Da haben sie so halb in die Knie gebückt und vorwärts geneigt im Schnee gestanden und sind erfroren.“ Aussagen, mit deren Zusammenstellung, Auswertung und Einordnung Römer der uniformen Wehrmacht ein individuelles Gesicht gibt.

Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 608 Seiten, 26 Euro.

Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen. Piper Verlag, München 2012. 544 Seiten, 24,99 Euro.

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