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An den Anblick muss man sich wieder gewöhnen: die Ballroom-Szene mit Maren Eggert und Dan Stevens in "Ich bin dein Mensch".

© Christine Fenzl

Zum Ende der des Berlinale Summer Special: Versuchte Nähe oder Die Spuren der Pandemie

Die Sommer-Berlinale ist das erste große Filmfestival nach 15 Monaten Corona: Wie schlägt sich das Virus denn nun in den Bildern nieder?

Alltagsmasken, lange ist’s her. Wenn im Bären-Gewinnerfilm „Bad Luck Banging or Loony Porn“ das Elterntribunal tagt, nimmt die über ein Sexvideo empörte Bürgerschar fast schon Züge einer historischen Versammlung an. Leopardenmuster, Smileymund, Jokerfratze, Regenbogen-Logo, Blumen-Design, "I can't breathe"-Aufschrift, Plastikvisiere – wie fantasievoll nahmen sich die Schutzmasken im Sommer 2020 aus, damals, bevor FFP2 Vorschrift wurde!

Die Ausstatter schöpften jedenfalls aus dem Vollen: Der erste große Corona-Film in der Geschichte des Kinos ist ein Kostümfilm, schon jetzt ein Zeitdokument. Die Krise heute, die Krise damals: Es ist wohl kein Zufall, dass Dominik Grafs Zwanziger-Jahre-Film „Fabian“ die Menschen in der Großstadt ähnlich versehrt zeigt, ähnlich lebenswütig und unbehaglich in der eigenen Haut.

Festivalchef Carlo Chatrian sprach im Frühjahr von erkennbaren Spuren der Pandemie im Programm. Und er fragte: „Was projizieren wir in Filme hinein, was ist tatsächlich zu sehen?“ Nun gehen Vision und Wirklichkeit im Kino ja ohnehin gerne in eins. Wie also hat sich Corona in den Bildern niedergeschlagen?

Wer mitten ins Herz der Pandemie zielt, trifft auch die Verhältnisse vor Corona mitunter im Kern. Beispiel China. Shengze Zhu betrachtet in ihrem Dokumentaressay „A River Runs, Turns, Erases, Replaces“ die stillgestellte Zeit während des Lockdowns in Wuhan. Halt auf freier Strecke: Sehr zögerlich kehrt der Alltag in die menschenleere, dunstige Megacity zurück. Rinder stehen knietief im Jangste, Menschen schwimmen gegen den Strom, während über ihnen eine gigantische Brücke gebaut wird.

Stadt im Dunst: das menschenleere Wuhan in "A River Runs, Turns, Erases, Replaces"
Stadt im Dunst: das menschenleere Wuhan in "A River Runs, Turns, Erases, Replaces"

© Burn The Film

Aus dem Off lesen Angehörige Briefe an Covid-Tote vor, Erinnerungen, Schuldgefühle, Trauerarbeit. Die Pandemie erweist sich als Zwangspause für eine entfesselte Ökonomie, einen unaufhaltsamen Fortschritt, der manche zurücklässt.

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Beispiel Iran. Der Encounters-Beitrag „District Terminal“ spitzt die Verunsicherung und die im Unrechtsstaat vertraute Übergriffigkeit der Behörden zur ähnlich beißenden Farce zu wie Radu Judes Bärensiegerfilm. Während sich Hygiene-Kontrolltrupps in Astronautenmontur oder mit Gasmasken sämtliche Aufmüpfigen schnappen, haben die Künstler in der verseuchten Öffentlichkeit nichts mehr zu suchen, und nicht nur sie. Man richtet sich ein im Fatalismus, schwankt zwischen Bleiben oder Gehen, Quarantäne oder Exil.

Vielleicht taugt Corona vorerst besonders gut zur Groteske, wie auch in Denis Cotés kanadischem Beziehungsdramolett „Hygiène sociale“. Theatralische Auftritte unter freiem Himmel, ein Mann im Clinch mit vier Frauen, und die Hybris des Dandy-Helden wird zur Kenntlichkeit entstellt.

Ein Hygiene-Kontrolltrupp im iranischen Encounters-Beitrag "District Terminal".
Ein Hygiene-Kontrolltrupp im iranischen Encounters-Beitrag "District Terminal".

© Berlinale-Encounters

Noch mehr als auf Abstand hat die Pandemie die Menschheit jedoch in ihre Wohnungen gezwungen. Deshalb die vielen Kammerspiele auf dem Festival, Familien in der Krise, ob prekär oder wohlsituiert, Heimsuchungen, Selbstreflexionen. Oder nimmt man es nach so viel Lockdown tatsächlich nur anders wahr, wenn der Filmstar Daniel in Daniel Brühls „Nebenan“ nach London aufbrechen will, es aber nur bis in die Kneipe ums Eck schafft? Und wenn er dort seine allernächste Umgebung kennenlernt, vor allem sich selbst?

Zögerliche Nähe: Das Kino probiert eine neue Behutsamkeit aus

In Céline Sciammas „Petite Maman“ trifft eine Achtjährige ihre Mutter als Kind im Wald - Familienauftstellung nach Baumhaus-Art. Im griechischen Film „Moon, 66 Questions“ kehrt eine junge Frau ins Elternhaus zurück, um ihren MS-kranken Vater zu versorgen – eine zögerliche, schwierige Annäherung, nicht zuletzt an die eigene Seele. In Zeiten der gesellschaftlichen Spaltung probiert das Kino eine neue Behutsamkeit aus. Auch "Das Mädchen und die Stimme" spielt fast komplett indoor - eine Wohngemeinschaft, ein Umzug voller Spannungen, sanft, aber folgenreich.

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Ob der in Guantanamo weggesperrte „Mauretanier“ oder die aus Straßenprotesten hinter Gitter verschleppten Demonstranten im Belarus-Film „Courage“: Auch Gefängnis- und Zensurfilme sehen plötzlich anders aus, noch erschreckender, unbedingter. Im Hongkong-Film „Wood and Water“ probiert eine deutsche Rentnerin vor dem Spiegel die Stoffmaske an, die sie gerade gekauft hat. Nicht wegen Corona, der Film wurde vorher gedreht, sondern wegen der Studentenproteste, dem Tränengas. Freiheit versteht sich nicht von selbst, sie ist ein kostbares Gut.

Wenn man dreieinhalb Stunden dem Schulgeschehen in "Herr Bachmann und seine Klasse" folgt, wird nach einem Jahr Homeschooling noch deutlicher, wie wichtig Schule als realer Ort der Begegnung ist - gerade für diejenigen Kinder, die zuhause wenig unterstützt werden können. Und wenn Maria Schrader gleich zu Beginn ihrer KI-Romanze „Ich bin dein Mensch“ ein Tanzlokal mit umeinander wirbelnden Paaren inszeniert, hält man den Atem an. Kein Abstand, den Anblick ist man nicht mehr gewöhnt. Der erleichternde Gedanke: Die Hälfte der Leute sind zum Glück Roboter. Na ja, im Film jedenfalls.

Der Einzelne und die Menge, daheim und draußen, die Verhältnisse verschieben sich. Seit Beginn der Pandemie denken wir darüber nach. Das Kino, diese Membran zwischen Innen und Außen, ist dafür ein fantastischer Ort.

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