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Der Dramatiker Lars Norén, 2017 in Stockholm.

© Fredrik Sandberg / TT News Agency / AFP

Zum Tod des Dramatikers Lars Norén: Der Mann, der das Chaos suchte

Lars Norén beschäftigte sich in seinen Stücken mit Depressionen, Rausch und schlechten Ehen. Erinnerung an einen Besuch in Stockholm.

Man musste es lange läuten lassen, bis Lars Norén das Telefon abhob. Verabredung auf ein Gespräch in seiner Wohnung in einem alten, vornehmen Teil Stockholms. Eine Vorsichtsmaßnahme: Der Name stand nicht auf dem Klingelschild. Lars Norén war in Schweden ein berühmter Mann – und einer der bedeutendsten Dramatiker Europas. An diesem Dienstag ist er mit 76 Jahren in seiner Heimatstadt ein Opfer der Covid-Pandemie geworden.

Unsere Begegnung fand im Januar 2000 statt, wenige Wochen vor der Eröffnung der neuen, jungen Schaubühne am Lehniner Platz. Thomas Ostermeier hatte zum Einstand ein Stück gewählt, das auf geradem Wege in die Hölle führt: „Personenkreis 3.1“ von Lars Norén.

Drogensüchtige, Obdachlose, Prostituierte, Arbeitslose, Alkoholiker, Manisch-Depressive, Künstler stimmten eine Symphonie des Grauens in den großen Städten an. Dantes „Inferno“ mischte sich mit Gorkis „Nachtasyl“ und Sarah- Kane-Horror. Noréns Theater suchte stets das volle Risiko.

In einem früheren Stück hatte er geschrieben: „Wir alle brauchen etwas, das uns nach unten zieht.“ Schnaps, Zigaretten, Sex, Psychosen, Gott, Fernsehen wären einige Varianten, an die er dabei dachte. Nach unten ziehen: Damit ist ein Anker gemeint, eine Befestigung der umherirrenden Psyche. Ein Rausch, der den Menschen vor dem Schlimmsten bewahrt: sich selbst.

Vorwürfe an Ingmar Bergman

Ein Schriftsteller, der Feinde hatte. Der sie brauchte. „Personenkreis 3.1“ war sein Intro am Rikstheater, das Norén seit 1998 leitete. Firmen, Politiker, Beamte, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben sich in diesem Text nicht nur wiedererkannt, Norén nannte Namen.

Auch den Namen Ingmar Bergman. Dem großen alten Mann des schwedischen Films warf Norén vor, er habe das Stockholmer Dramaten, das Staatstheater, als Intendant verkommen lassen und gegen die neue Dramatik abgeschottet. Noréns Stücke freilich wurden in vielen Ländern auf der Welt gespielt.

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Vom Blauen Turm am oberen Ende der Drottningatan, August Strindbergs letztem Domizil, heute ein Museum, ging man zur Wohnung von Lars Norén, vorbei an der Stelle, wo 1986 Premierminister Olof Palme ermordet wurde. Olof Lagercrantz, Verfasser der einschlägigen Strindberg-Biografie, war in den frühen Jahren Noréns Mentor; eine kleine Welt voller Fantasie und Sprengstoff.

Norén mochte Strindberg nicht, nannte ihn eine „quälende Schullektüre“. Er bevorzugte Ibsens „glasklare“ Dramaturgie, bei Strindberg, sagte er in unserem Gespräch, stürze man ins Chaos.

Mehr als vierzig Dramen

Doch wenn irgendein zeitgenössischer Dramatiker sich darauf verstand, das familiäre, sexuelle, gesellschaftliche Chaos aufzureißen und meisterhaft zu dirigieren, so war das damals Lars Norén. Und wenn man sich in seiner Wohnung umschaute, fiel die heftige Ordnung und Leere auf.

Dem kleinen, drahtigen, ebenso energetisch wie melancholisch wirkenden Mann war anzusehen, dass er Sport trieb. Keine Bilder an den Wänden, nur eine Fotografie von Anton Cechov.

Er begann als Lyriker. Doch bald erschien es ihm „zu einfach, Gedichte zu schreiben“. 1972 entstand sein erstes Stück, „Fürstenlecker“. Reichlich vierzig Dramen hat er verfasst, in den achtziger Jahren war Lars Norén im deutschsprachigen Theater groß in Mode.

In Bochum inszenierte Claus Peymann mit Kirsten Dene und Gert Voss „Dämonen“. Alfred Kirchner brachte die Fortsetzung heraus, „Nachtwache“. Es waren qualvoll-genüsslich sezierte Ehe- und Familienkatastrophen mit starken Strindberg- und Albee- Anklängen.

Eine Theaterprobe mit Häftlingen hatte schlimme Folgen

Eines Tages hatte er genug, dieses Chaos war aufgebraucht. Er wollte heraus aus der Enge. Er erhielt einen Brief von Strafgefangenen, die in der Haftanstalt Tidaholm einen Schauspielkreis gegründet hatten. Norén entwickelte mit den Häftlingen ein Stück, „7:3“.

Der Titel bezeichnet eine bestimmte Freigangsregelung. Nach der letzten Vorstellung 1999 ereignete sich die Katastrophe. Zwei der mitwirkenden Häftlinge flohen aus dem Theater, überfielen eine Bank und erschossen zwei Polizisten. Juristisch wurde der Dramatiker entlastet. Persönlich hatte ihn die Grenzüberschreitung schwer angeschlagen. In seinen Tagebüchern schlug er später gegen Schweden und seine Kultur heftig zurück.

Rüdiger Schaper

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