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POSITIONEN: Aufgehübscht, doch gut erhalten

Nord, Süd, West, Ost: Mein Berlin ist eins

Zum ersten Mal kam ich 1993 nach Berlin. Ich war gerade mit der Uni fertig und hatte keinen Job. Als Studentin hatte ich freudig, aber auch ungläubig zugeschaut, wie ein paar Jahre zuvor die Mauer gefallen war. Ich sehnte mich nach etwas Neuem und hatte beschlossen, es nun in dieser Stadt zu finden.

Ich hetzte zunächst durch die Bezirke, um mir mit Englischunterricht meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mit der U- und S-Bahn fuhr ich von den wohlhabenderen Sprachschulen in Charlottenburg und Wilmersdorf zu den einfacheren in Marzahn und Mitte, dann weit raus nach Spandau, wo ich Abendkurse für Senioren und Fabrikarbeiter gab.

Viele meiner erwachsenen Studenten wirkten müde und unsicher, was die Zukunft wohl für die Stadt bringen würde. Meine Tagesroute bestand aus ewig langen Umwegen um matschige Bauzäune herum, und so mancher Tag war geprägt von einem unangenehmen Zusammentreffen mit irgendeinem Fremden – Verkäufer verdrehten wegen meines bruchstückhaften Deutschs die Augen oder weigerten sich ganz, mir zu helfen. In solch mutlosen Momenten kam mir die Stadt vor wie ein Ort, aus dem die Hoffnung langsam wie Luft entwich, wo den Menschen die Schultern herabhingen und abbröckelnde Fassaden auf leere Straßen herabblickten.

Aber nicht alles war trostlos. Ich traf interessante Menschen – etwa ein ehemaliges Klavierwunderkind, das nach dem Tod seiner Mutter aus der Spur geraten und nach Berlin gekommen war, um über seine nächsten Schritte nachzudenken. Ein Freund zeigte mir Free Jazz, und zusammen klapperten wir die Clubs ab.

In diesem Sommer kam ich nach Berlin zurück. Bei einem Abendspaziergang nach der Arbeit bewunderte ich die polierten Häuser und schicken Restaurants in denselben Straßen in Prenzlauer Berg und Mitte, wo einst die schäbigen kleinen Bars zu finden waren. Das heruntergekommene Tacheles existiert noch, aber es passt nicht mehr in die Nachbarschaft, unbehaglich wirkt es, wie ein hipper Jugendlicher auf einem Unternehmerpicknick.

Mich packte Verlustschmerz. Es fühlte sich an, als hätte ich einen alten Bekannten wiedergetroffen, der in der Zwischenzeit Erfolg hatte und dessen Persönlichkeit dadurch hochpoliert wurde. Berlin ist plötzlich eine Touristenattraktion, ein Ort, der Hedgefonds-Manager anzieht, die hier billig eine Wohnung kaufen und dann bei irgendeiner Party damit angeben. Den Berlinern gefällt die Aufmerksamkeit offenbar. An neuen Touristenzielen wie dem Jüdischen Museum oder der Reichstagskuppel helfen Mitarbeiter den Besuchern höflich durch die Sicherheitsschleusen.

Die Stadt aus meiner Erinnerung gibt es noch. Die Nischen im Charlottenburger Schlosspark sind noch immer wild und überwachsen und öffentlich zugänglich. Am Nachmittag in Kreuzberg wandern die Typen noch immer von einem Café zum nächsten, während die türkischen Mütter mit ihren Kindern vorbeihuschen. Und alle bleiben immer noch vor einer roten Ampel stehen.

Vor kurzem traf ich einen jungen Amerikaner, der sich in Berlin als freier Journalist verdingt. Seine Freundin, eine Opernsängerin aus den Staaten, ist auch hier. Musiker lieben die Stadt. Manchmal buht das Publikum, aber immer hört es zu, die Reaktion ist nie routiniert. Sogar die Carnegie Hall in New York – eine ehrwürdige Vitrine für deutsche Musik – wird demnächst Berlin in den Vordergrund rücken: durch ein 17-tägiges Festival aus Cabaret und Klassik, Literatur und Film.

Meine Beziehung zu Berlin ist wie die tiefe Bindung zwischen Freunden, die sich erst ihre rauen Seiten gezeigt haben und später die weichen. Die Stadt wird sich weiter verändern. Aber gewiss bleibt sie ein Ort, an den Menschen – mit einer begrenzten Menge an Zeit und Geld – kommen, um Neues zu versuchen.

Die Autorin arbeitet beim „Wall Street Journal“ und war bis vor kurzem als Arthur-F.-Burns-Stipendiatin beim Tagesspiegel. (Übersetzt von Moritz Schuller.)

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