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Berlins Verhaltensrowdys : Jeder für sich und nach uns die Sintflut
Wer sich in einer Großstadt bewegt, braucht Vernunft und Respekt. Wenn jeder nachgibt, kommen alle schneller voran. In Berlin wird das Gegenteil praktiziert.

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Ein normaler Wochentag zu einer normalen Zeit, mitten in Berlin. Der Bus hält. Gleich öffnen sich die Türen. Sofort bilden die Wartenden einen Pulk, um als erste einsteigen zu können. Doch was ist das? Etwas vollkommen Unvorhersehbares geschieht – jemand will aussteigen. Ja, wo gibt’s denn so was?
Und nicht nur einer. Mehrere Passagiere bahnen sich den Weg durch die verdutzte Menschentraube vor den Türen. Einige kommen nun vom Oberdeck runter und quetschen sich mühsam an jenen vorbei, die bereits eingestiegen sind. Ohne ein wenig Ruppigkeit und Rempelei geht das natürlich nicht. Manchmal wird halblaut ein deftiges Wort gemurmelt, das Widerwille ausdrücken soll. Kein Wunder, Aussteigende und Einsteigende behindern sich gegenseitig.
Das Verhalten in einer Großstadt verlangt Zivilität. Mit anderen Worten: Vernunft und Respekt. Wenn jeder nachgibt, kommen alle schneller voran, so funktioniert das allgemeine Mobilitätsprinzip. Wer jemals in London oder New York war, hat das erlebt.
Es ist das Resultat purer Gedankenlosigkeit - man könnte auch Dummheit sagen
In Berlin indes, wo es an Rebellentum nie fehlt und jeder gerne auf ein Recht pocht, das er zumeist nicht hat, wird hartnäckig das Gegenteil praktiziert. Das Motto lautet: Jeder für sich und nach uns die Sintflut. Das hat nichts mit falscher Erziehung, mangelnder Höflichkeit oder ausgeprägtem Egoismus zu tun. Nein, es ist das Resultat purer Gedankenlosigkeit. Man könnte auch Dummheit sagen.
Auf dem Bürgersteig beansprucht jeder Fußgänger eine imaginäre Linienführung für sich allein, von der er partout nicht abweicht. Koste es, was es wolle. Sollen die anderen doch. Tun sie aber nicht.
Freunde und Familie gehen selbstverständlich zu dritt oder viert nebeneinander. Da ist kein Durchkommen, wenn von vorne jemand entgegenläuft. Kurz vor dem Aufprall werden hektische Ausfallschritte gemacht. Der Blick böse, der Gestus genervt. Im öffentlichen Raum ist selbst der Feind meines Feindes mein Feind.
Irgendwo muss das Portemonnaie doch sein - ach, hier
An der Kasse im Supermarkt. Der Kunde packt seine Waren ein. Die Kassiererin nennt den Endbetrag. Der Kunde packt weiter seine Waren ein. Als er fertig ist, kramt er nach dem Portemonnaie. Irgendwo muss es doch sein. Ach hier.
Er bezahlt zunächst in Bar und mit Münzen, damit es passend ist, dann fällt ihm ein, dass er noch Bargeld von der Kassiererin haben möchte. Aber wo ist seine EC-Karte? Die Hände wühlen links in der Einkaufstasche, rechts in der Einkaufstasche. Schließlich findet er die Karte in der Hosentasche. Wartezeit für die Kunden hinter ihm – rund zehn Minuten.
Oder im Flugzeug nach Mallorca. Die Passagierin ganz vorn im engen Mittelgang sucht ihren Platz. 14 A, am Fenster. Bevor sie in die Reihe tritt, damit alles im Fluss bleibt, muss sie jedoch ein paar Dinge aus dem Handgepäck holen. Die Lesebrille, das Kreuzworträtsel. Ach, halt, Tasche wieder runter, der Schal fehlt noch. Zum Schluss wird die Jacke ausgezogen, gefaltet, verstaut - und nun freundlicherweise endlich der Gang geräumt und der Sitzplatz eigenommen. Ein solches Boarding zieht sich.
Vielleicht sollte es ein Schulfach und Volkshochschulkurse für Erwachsene geben: Wie bewege ich mich im öffentlichen Raum? Mit Tests, Klausuren und praktischen Übungen. Eine Art Führerschein für Menschen ohne Auto. Wobei: Am schlimmsten sind ja bekanntlich die Fahrradfahrer. Aber über die wurde schon alles gesagt.
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