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Derzeit befindet sich Ex-Präsident Jair Bolsonaro im Hausarrest, demnächst vermutlich hinter echten Gittern.

© REUTERS/Diego Herculano

Bolsonaro soll ins Gefängnis kommen: Brasiliens Demokratie war noch nie so stark

Der Ex-Präsident und seine Komplizen sollen wegen Putschversuches inhaftiert werden, Bolsonaro für 27 Jahre. Das hat das Oberste Gericht mehrheitlich entschieden – jedem Druck von innen und außen zum Trotz.

Laura Dahmer
Ein Kommentar von Laura Dahmer

Stand:

Das Wort ist nicht zu groß gewählt: historisch. Der brasilianische Staat hat den ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro für einen Putschversuch zu mehr als 27 Jahren Haft verurteilt – und damit zum allerersten Mal in seiner Geschichte einen hochrangigen Ex-Militär für dieses Verbrechen schuldig gesprochen.

Ausgerechnet das Land, das in weniger als 100 Jahren drei Militärputsche erlebte, aus denen zwei gewaltvolle Diktaturen erwuchsen – in dem die Streitkräfte aber nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Die Geschichte Brasiliens war auch immer eine Geschichte der Straffreiheit. Bis jetzt.

Bolsonaro plante 2022 einen Putschversuch

Fünf Oberste Richter stimmten diese Woche nacheinander über das Schicksal Bolsonaros und seiner Mitstreiter ab. Vier von ihnen stimmten für eine Verurteilung, nur einer sprach fast alle Angeklagten frei.

Für Feinde der Demokratie ist in Brasilien kein Platz mehr.

Die weitgehend geschlossene Entscheidung des Gerichtes demonstriert, wie stark die erst 40 Jahre junge brasilianische Demokratie inzwischen ist. Sie hat vier Jahre ständiger Attacken des schon im Amt autokratisch agierenden Bolsonaro überstanden – und seinen Putschversuch. Nun zeigt sie: Für Feinde der Demokratie ist in Brasilien kein Platz mehr.

Die Gruppe um Bolsonaro, befand das Gericht, beabsichtigte nichts Geringeres als die Abschaffung des existierenden politischen Systems. Um jeden Preis wollte sie den rechtsradikalen Politiker, der die Wahl 2022 gegen den amtierenden Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva verlor, an der Macht halten.

Einige Generäle planten dafür, im Wissen Bolsonaros, einen Mordanschlag gegen Lula und dessen Vize-Präsidenten sowie gegen den Obersten Richter Alexandre de Moraes, der Teil des Gerichtsverfahrens war. Am 8. Januar 2023 stürmten und zerstörten Tausende „Bolsonaristas“, angestachelt von ihrem Idol, außerdem das Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasilia.

Das Militär, so der Plan, sollte die Machtübernahme Lulas Anfang 2023 verhindern und Bolsonaros Präsidentschaft weiter ermöglichen.

Aber der damalige Armeechef Marco Antônio Freire Gomes versagte ihm die Unterstützung. Auch das: historisch. Hätte Freire Gomes nicht so vehement widersprochen, sagten einige Beteiligte im Prozess, wäre es vermutlich zum Putsch gekommen.

Bilder, die an den Sturm auf das Kapitol in Washington erinnern: der 8. Januar 2023 in Brasiliens Hauptstadt Brasilia.

© AFP/ SERGIO LIMA

Der gesamte Vorgang klingt wie eine Rückkehr in das Lateinamerika der Siebzigerjahre. In die Zeit, in der das Militär demokratisch gewählte, linke Regierungen gewaltsam entmachtete. Putsche, an denen die USA nicht unbeteiligt waren.

Auch jetzt mischte sich Washington ein: Mit Strafzöllen und Sanktionen gegen Richter Moraes versuchte Donald Trump, den brasilianischen Staat zu zwingen, die „Hexenjagd“ gegen seinen Verbündeten Bolsonaro zu beenden.

Brasiliens Präsident Lula da Silva sollte möglicherweise zum Ziel eines Mordattentats werden.

© imago/Fotoarena/IMAGO/Ton Molina

Schon wie frühere US-Präsidenten zu Zeiten des Kalten Krieges machte Trump deutlich: Lieber ein ihm wohlgesonnener Autokrat als eine widerspenstige Demokratie.

Hat er Angst vor den Schlüssen, die man in den USA aus dem brasilianischen Urteil ziehen dürfte? Womöglich.

Oft genug werden Bolsonaro – der „Tropen-Trump“, – und der US-Präsident, der Sturm auf das Regierungsviertel in Brasilia 2023 mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington 2021 verglichen.

Das Urteil ist eine Chance, die genutzt werden will – und muss.

Auch die USA hatten versucht, Trump, der seine Wahlniederlage gegen Joe Biden 2020 bis heute nicht eingestehen will, den Prozess zu machen. Erfolglos. Brasilien aber hat es geschafft – jedem Druck von innen und von außen zum Trotz.

Es gibt den Menschen im Land die Chance, Wunden zu heilen. Alte Wunden der Militärdiktatur und neue Wunden der Spaltung, die Bolsonaro und seine Anhänger über Jahre betrieben haben.

Ausgerechnet am Unabhängigkeitstag Brasiliens demonstrieren Bolsonaristas in São Paulo – und halten dabei ausgerechnet die US-Flagge hoch.

© AFP/NELSON ALMEIDA

Das Urteil ist eine Chance, die genutzt werden will – und muss. Denn auch die Bolsonaristas haben sich darauf vorbereitet. Seit Monaten werben sie für ein Gesetz, das Bolsonaro und seinen Komplizen nach der Verurteilung Amnestie gewähren soll.

Sie verbreiten den Verschwörungsglauben, dass in Brasilien eine „Diktatur der Richterroben“ herrsche und das Oberste Gericht politisch motiviert sei. In Teilen der Bevölkerung finden diese Narrative immer noch großen Zuspruch, Zehntausende gingen vergangene Woche für den alten Machthaber auf die Straße. Auch jetzt könnten die Proteste weitergehen.

Nach wie vor huldigen viele dem Ex-Präsidenten wie einem Heiligen.

© REUTERS/DIEGO VARA

Dies zeigt: Am Ende ist Bolsonaro vor allem das prominente Gesicht einer rechtsradikalen Bewegung, die über Jahre entstanden ist, und deren Welt aus der evangelikalen Kirche, Hass und Verschwörungstheorien besteht. Sie wird im Zweifel auch ohne ihn existieren.

Der Ex-Präsident hat bei seiner Wahl 2018 ein Gefühl verkörpert und instrumentalisiert, das unter niemand Geringerem als Lula und seiner linken Arbeiterpartei PT entstanden ist, unter Misswirtschaft und Korruption. Besonders die ärmere Bevölkerung, frühere Stammwähler der PT, haben sich von der Politik entfremdet.

„Die Geschichte lehrt uns: Straffreiheit, Untätigkeit und Feigheit sind keine Optionen für die Befriedung. Sie hinterlassen traumatische Narben in der Gesellschaft“, sagte Richter Alexandre de Moraes zum Prozessende.

Doch noch ist Bolsonaro nicht im Gefängnis, noch kann es Straffreiheit geben. Und dann würde aus dem Sieg der Demokratie schnell ein Sieg der Demokratiefeinde. Um das zu verhindern, ist es jetzt auch an Lula und seiner Partei, das brasilianische Volk zu befrieden.

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