Meinung: Der Mauerbau: Keinen Frieden mit der Mauer
Das Gedenken zum 13. August wirft seinen Schatten voraus: Debatten, historische Einsichten, zeitgemäße Ansichten, verlautbart in Podiumsdiskussionen und Zeitungsartikeln.
Das Gedenken zum 13. August wirft seinen Schatten voraus: Debatten, historische Einsichten, zeitgemäße Ansichten, verlautbart in Podiumsdiskussionen und Zeitungsartikeln. Und in Sicht gerät dabei eine Quintessenz, die zwar nicht ganz neu ist, aber aus dem Mastkorb dieses vierzigsten Jahrestags vielleicht klarer auszumachen ist als vorher. Gerade an diesem, politisch hoch belasteten Erinnerungstag muss man allerdings zweimal hinschauen, um die Botschaft in ihrer fatalen Konsequenz zu begreifen. Sie lautet: Ohne Mauer ging es nicht. Irgendwie war sie unumgänglich. War sie gar notwendig?
Um keine Missverständnisse zu provozieren: Niemand hat die Absicht, die Mauer zu verteidigen. Selbst bei der PDS fällt man heute auf die Nase - wie der sächsische Landesvorsitzende Porsch erfahren hat -, wenn man diesen Eindruck erweckt. Es geht um Erklärungen und Deutungen. Der Bau der Mauer, so die Analyse, habe den Ost-West-Konflikt ruhig gestellt. Die Gefahr seiner Eskalation sei damit abgewendet worden. Die Folge war eine Art Waffenstillstand, den Ost und West eher mit Erleichterung registrierten und in ihrer Weise realisierten. Nach dem Schock des Mauerbaus habe dann die Politik der kleinen Schritte begonnen, die zum deutsch-deutschen Nebeneinander und einem begrenzten Miteinander führte, bis die DDR in sich zusammenstürzte.
Aggressiv und defensiv
Tatsächlich war die Errichtung der Mauer ein massiv aggressiver Akt, der eine defensive, Konflikt einhegende Seite hatte. Man mag den Deutschen, zumal den Berlinern, einräumen, dass sie das, voll getroffen von diesem Vorgang, seinerzeit kaum wahrzunehmen vermochten. Aber aus weltpolitischer Perspektive erscheint die brutale Aktion als eine Entscheidung, die man - wie Peter Graf Kielmansegg, gegenwärtig die Nummer 1 der Nachkriegs-Historiker, - "historisch korrekt" nennen kann.
Die Weltmächte grenzten ihre Einflusszonen ab. Die Amerikaner setzten der Sowjetunion ihr Bis-hierher-und-nicht-weiter entgegen, das Präsident Kennedy kurz zuvor mit der Versicherung der Freiheit für West-Berlin erklärt hatte. Die Sowjetunion verzichtet auf weitere Versuche, den Stein des Anstoßes - West-Berlin - zu entfernen, sicherte jedoch ihre Herrschaft über die DDR und damit ihre Kriegsbeute.
Es trifft schließlich auch zu, dass die Mauer das deutschlandpolitische Umdenken veranlasste, das den Weg zur neuen Ostpolitik öffnete. Wie immer man diese bewertet: Sie hat jedenfalls den Erosions-Prozess befördert, der drei Jahrzehnte später zum Zusammenbruch des Ostblocks führte. Bedurfte es also der Mauer - so der Vernunftschluss, den Friedrich Dieckmann in der "FAZ" gezogen hat und den er mit Recht "bitter" nennt -, um die Mauer zu überwinden?
Das alles ist so, im Großen und Ganzen, richtig, die Zeithistoriker belegen es aus ihren Akten, aber es hinterlässt ein gespaltenes Gefühl. Es rechtfertigt nichts, aber es spricht der Mauer immerhin eine gewisse Berechtigung zu - und es ist fast nicht zu vermeiden, dass daraus auf einen offenkundigen Akt der Barbarei doch ein Anschein von Recht fällt.
Gewiss, es sind unterschiedliche Ebenen, auf denen diese Geschichte spielt: da die Weltmächte, die irgendwie doch den Frieden gerettet haben - oder das, was im Zeitalter des atomaren Gleichgewichts dafür gelten konnte - dort Walter Ulbricht und Genossen, die das zwar behaupten, aber doch nichts anderes im Kopf hatten als die Rettung ihrer miesen Herrschaft; hier die Menschen und das Land, die den Schlag zu erdulden hatten. Aber sind es wirklich nur Emotionen, die sich dagegen wehren, dass dieses Ereignis so erklärt wird? Dass wir im Nachhinein doch so etwas wie unseren Frieden mit ihm machen - auf hohem Reflexionsniveau und aus sicherem Abstand?
Nein, etwas mehr ist es wohl schon, was dem kalten Frieden da in die moralisch-politische Rechnung zu stellen ist. Kann man es einfach die Wirklichkeit der Mauer nennen? Der Schock, der an diesem Sonntag im August das Land und seine Menschen traf. Die stumme Brutalität, mit der sie ein halbes Menschenalter lang ihren Anspruch verteidigte. Der Rest von Fassungslosigkeit, der an diesem Bauwerk bis zu seinem Ende hängen blieb, aller Gewöhnung zum Trotz.
Man mag sich zur Weisheit von Jacob Burckhardt bequemen: "Es gibt ein Weiterleben der verletzten Menschheit mit Verlagerung des Schwerpunkts." Aber eine Verletzung der Menschheit, ein Bruch in der Geschichte der europäischen Zivilisation, war die Mauer eben doch. Es war die Fülle an Schicksalsbeugung, an Nötigung, an Leid in ihrem Gefolge, die es nachgerade als Blasphemie erscheinen lässt, ihre Errichtung als weltpolitische Operation abzubuchen - leider unumgänglich, und wer die Kosten tragen musste, hat eben Pech gehabt. Es gibt Phänomene und Vorgänge, Eindrücke und Erfahrungen, die den Glauben, dass die Dinge ihre Ordnung haben, von Grund auf und unheilbar erschüttern. Die Mauer gehörte dazu.
Andererseits: Die Wirklichkeit der Mauer ist geschwunden. Ja, wenn die Berichte, die Bilder, die Filme in den nächsten Tagen nach uns greifen, hat die Erschütterung über sie gegen alle Zeitgeschichte immer noch Recht - und mit ihm die Botschaft, dass nicht geschehen durfte, was geschah. Aber danach?
Selbst die Prozesse gegen die Mauerschützen und ihre Befehlsgeber, mit denen wir so mühsam das Thema abarbeiten, verkürzen es. Sie reduzieren ihren Schrecken auf die Mauertoten. Für sie soll sich die PDS entschuldigen, anhand derer muss der Regierende Bürgermeister in der Talkshow sein Geschichtsbewusstsein beweisen. Doch nach dem Mauerfall ist aus dem Monument einer bleiernen Unaufhebbarkeit, dessen Ende man sich nicht einmal vorstellen konnte, eine Zwischenzeit geworden, ja, eine Episode.
Machtlogik, Gefühlslogik
Doch die Mauer hat die Menschen ja nicht nur daran gehindert, die DDR zu verlassen. Indem dieses Bauwerk sie ganz und gar der DDR und ihrem System ausgeliefert hat, hat sie tief in das Schicksal von 16 Millionen eingegriffen. Dass auch die Ostdeutschen mit den Jahren gelernt hatten, mit der Mauer zu leben - von den Westdeutschen ganz zu schweigen -, ändert nichts an ihren Folgen: einer Enteignung an Lebensmöglichkeiten, an Lebenserfahrungen, einem Lebensraub ungeheuren Ausmaßes. Alles unersetzbar, ja, uneinholbar, wenigstens für jene, deren Lebenszeit mit diesen 30 Jahre ganz oder zum Teil zusammenfielen.
Und dabei ist noch gar nicht mitbedacht, dass die Mauer den Zustand der Teilung, der 1949 mit der Gründung der beiden deutschen Staaten begann, erst wirklich als Gesetz ihrer Existenz in das Leben aller Deutschen einzementierte. Wie keine andere Maßnahme hat sie die zweistaatliche Deformation des Landes befestigt, an der wir noch immer zu schlucken haben. Insofern reicht sie noch mächtig in die Gegenwart hinein - nicht nur im Osten, sondern auch im Westen.
Nochmals: Musste es die Mauer geben? Sie entsprach offenbar der Logik der machtpolitisch und ideologisch zugespitzten Situation in der geteilten Welt. Man wird so argumentieren müssen, und es wird in den Debatten in dieser Woche noch oft in dieser Weise argumentiert werden. Aber wir haben alles Recht dazu, uns von der Logik dieser Beweisführungen nicht unsere Gefühle und Erfahrungen, unsere Erbitterung und unsere Trauer abhandeln zu lassen. Sie stellen ihre eigene Potenz im Gefüge der politischen Weltordnung dar. Ohne sie hält diese Ordnung auf Dauer nicht.