Meinung: Der oberste Oppositionsführer
Vom Bundestagspräsidenten hängt ab, ob die Abgeordneten auch mitregieren dürfen
Stand:
Das ist jedenfalls kein gewöhnlicher Bundestag. Und es wird keine gewöhnliche Legislaturperiode. Oft ist davon die Rede, aber diesmal kann es sogar stimmen: dass die kommenden Jahre richtungweisend sein werden. Denn wenn es dazu kommt – woran im Moment die wenigsten zweifeln –, dass Union und SPD eine Koalition bilden, ist die zahlenmäßig nicht nur groß, sondern übergroß. Eine ungeheure Mehrheit hätten sie auf ihrer Seite, und zwar in des Wortes tiefer Bedeutung: nicht ganz geheuer ist sie selbst denen, die sie befürworten.
Die Rechte der Minderheiten zu schützen ist nicht die letzte Aufgabe eines Parlaments, einer Volksvertretung, des Orts, an dem die Abgesandten des Souveräns ihres Amts walten. Nur noch einmal zur Erinnerung: In einer Demokratie hält sich die Legislative eine Exekutive, die Regierung ist nichts ohne Legitimation durch das Parlament. Üblicherweise.
Insofern ist Abgeordneter zu sein das stolzeste Amt und Fraktionsvorsitzender zu sein im Kern reizvoller, als Minister zu werden. Denn ein Fraktionschef ist immer auch Kanzler im Konjunktiv. Das ist ein, sagen wir, Arbeitsminister nicht zwangsläufig, selbst wenn er Vizekanzler wäre. Denn da gibt es trotz aller Rücksichtnahme in einer Koalition im Zweifel noch die Richtlinienkompetenz – ein Minister arbeitet so gesehen doch unter einem Kanzler. Was bedeutet: Die Ressortzuständigkeit bedeutet Eigenständigkeit, aber eben ein Handeln in diesen Grenzen. Ein Fraktionsvorsitzender dagegen setzt Grenzen.
Üblicherweise.
Nun ist es in diesem 18. Bundestag allerdings so, dass die vermutlich kommende Bundesregierung leicht 20 und mehr sogenannte Abweichler verkraften und ihre Vorhaben dennoch durchsetzen könnte. Das schwächt die Bedeutung, genauer die Autorität der Fraktionschefs. Zumal die nominelle Opposition aus Linken und Grünen zahlenmäßig so reduziert ist, dass sie keinerlei prägenden Einfluss ausüben kann, auch nicht durch ein, zwei, drei Abgeordnete der Koalitionsfraktionen, die mit ihr stimmen.
Darum tun auch die Vertreter des großen Regierungsbündnisses im Parlament gut daran, sich Verbündete innerhalb des Hohen Hauses zu suchen, die ihnen ihre theoretisch weitreichenden Mitwirkungsmöglichkeiten praktisch sichern. Sonst werden nämlich selbst die vielen Abgeordneten von Union und SPD überrollt und ihres souveränen Rechts beraubt.
Einen starken Verbündeten haben sie: den Bundestagspräsidenten. Und der ist noch einmal gestärkt. Mit 95 Prozent wurde Norbert Lammert wiedergewählt, das hat es noch nicht gegeben. Damit ist dieser Präsident, der auf die originären Rechte der Abgeordneten nicht nur achtet, sondern bei bisher noch jeder Regierung auf sie gepocht hat, gewissermaßen auch der oberste Oppositionsführer. Und der wird die kleineren Fraktionen mithilfe der Geschäftsordnung gewiss nicht verkümmern lassen und die großen ermuntern, sich nicht unterzuordnen. Ob Lammert Erfolg hat oder nicht, ist richtungweisend. Wie er das Amt versteht, zeigt, dass er am Tag, an dem Koalitionsverhandlungen beginnen, mit seinen Vorhaben und Ansichten an die Öffentlichkeit tritt. Souverän.
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