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Einheitsbericht: Der Westen wird östlicher

Deutschland wächst weiter zusammen. So richtig freuen mag man sich über die vermeintlich gute Nachricht dennoch nicht: Ost und West nähern sich einander gegenwärtig nicht trotz, sondern wegen der Krise an. Die Wirtschaftsleistung im Westen schrumpft derzeit schneller als die im Osten.

Von Matthias Schlegel

Ausgerechnet die über zwei Jahrzehnte immer wieder beklagte Situation, dass die großen Industrien zwischen Rügen und Thüringer Wald weggebrochen sind und die kleinen und mittelständischen Betriebe dort längst nicht die Exportkraft der westdeutschen Unternehmen erreichen, erweist sich jetzt als Glücksumstand. Der Umsatzrückgang des verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland betrug im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahresquartal 16,6 Prozent, in Westdeutschland 21,1 Prozent.

Doch die Bundesregierung und allen voran der für den Aufbau Ost zuständige Minister Wolfgang Tiefensee möchten verständlicherweise Erfolg oder Misserfolg der deutschen Einheit nicht allein aus dieser Momentaufnahme ableiten. Wie jede Bundesregierung bezieht auch diese ein Stück ihrer politischen und moralischen Legitimation daraus, dass es vorwärtsgeht mit dem Zusammenwachsen von Ost und West. Wie wollte sie sonst die enormen Transferleistungen und Sonderförderungen rechtfertigen, die den jungen Bundesländern seit 20 Jahren zugutekommen? Allein in den Solidarpakt II werden zwischen 2005 und 2019 noch einmal 156 Milliarden Euro gepackt, Jahr für Jahr mit rückläufigen Anteilen. Dann soll am Ende tatsächlich der selbsttragende Aufschwung in Ostdeutschland erreicht sein. Ein Ziel, das wie die Bockwurst vor der Nase des Hundes immer gleich weit entfernt zu sein scheint.

Selbst wenn man alle durchaus beachtlichen Zuwächse am ostdeutschen Bruttoinlandsprodukt gutwillig und krisenbereinigt hochrechnet, wird auch in zehn Jahren noch eine beträchtliche Lücke zwischen Ost und West klaffen. Und die vermaledeite Arbeitslosenquote, die trotz permanenter Abwanderung seit Jahr und Tag im Osten doppelt so hoch ist wie im Westen, wird sich auch in zehn Jahren nicht gänzlich angeglichen haben.

Vielleicht gehört einfach mehr Ehrlichkeit in diese Debatten. Der von bisher noch jeder Bundesregierung als zentrales Anliegen formulierte Anspruch, die Lebensverhältnisse in Ost und West anzugleichen, weckt eine Erwartungshaltung, die das Grundgesetz nicht meint und die den Realitäten nicht mehr entspricht. Es geht eben nicht darum, dass irgendwann die Altmärker die gleichen Besitzstände zu erwarten haben wie die Badener. Unterschiede zwischen Regionen und Bundesländern hat es immer gegeben und wird es immer geben. Ab 2020 wird sich das ausschließlich über den ganz normalen Länderfinanzausgleich nivellieren.

Oder nehmen wir die hohe Arbeitslosigkeit im Osten. Man kann sie beklagen, aber es ist auch legitim, darauf hinzuweisen, dass, historisch bedingt, die Erwerbstätigenquote, also der Anteil der Erwerbstätigen an der Zahl der Erwerbsfähigen, im Osten noch immer höher ist als im Westen. Oder Löhne und Gehälter: Gerade weil sie weithin im Osten noch unter denen im Westen liegen, können kleine und mittlere Betriebe jene günstigen Lohnstückkosten erreichen, die sie wettbewerbsfähig machen. Solche unbequemen Feststellungen sind auch vor dem 20. Jahrestag des Mauerfalls kein Verrat an der Einheit – sie gehören vielmehr zu ihrem Ertrag. Gleichmacherei war gestern.

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