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Meinung: Die eine Freiheit nehm’ ich mir

Rot-Grün ist für kulturelle Öffnung zuständig, Schwarz-Gelb für wirtschaftliche Liberalisierung. Das Problem: Viele Bürger wollen beides / Von Joachim Raschke

Keine einzige Idee der 68er hat überlebt. Selbst ihre Themen mussten von anderen entziffert werden. Willy Brandt hat ihnen gesagt, Demokratisierung – nicht Sozialisierung – sei ihr Thema. Wenn man nicht versucht, die 68er besser zu verstehen als sie sich selbst, kann man sie gar nicht verstehen.

Ihre Ziele waren völlig andere als ihre Wirkungen. Sie phantasierten über die Einführung der Räterepublik in WestBerlin, mit der sie noch im Laufe des Jahres 1968 fest gerechnet haben. Tatsächlich waren sie die Speerspitze kultureller Modernisierung in einem Deutschland mit obrigkeitsstaatlichen, antipluralistischen Traditionen.

Werterevolutionen gehen andere Wege als Kreuzberger Ho-Chi-Minh-Demonstrationen. Die „Silent Revolution" brachte zwar nicht den Umsturz, aber doch einen erheblichen Umbau des Wertesystem: die Verschiebung von materiellen und Sicherheitswerten hin zu solchen einer freieren, weltoffeneren, zivileren, solidarischeren Lebensweise. Dieser Wertewandel, in Deutschland forciert durch die hier besonders starken Bewegungen der 70er und 80er Jahre, schuf das Fundament für die rot-grünen Wahlerfolge im Bund. Am 22. September 2002 wählten alle Altersgruppen bis 60 mehrheitlich Rot-Grün.

Alle Kampagnen der Konservativen gegen den Geist, den die 68er aus der Flasche gelassen haben, sind gescheitert. Selbst Richard Löwenthal, der die 68er Protagonisten heftig bekämpfte, sprach später von einer „zweiten Aufklärung". Bei der Bundestagswahl sind CDU/CSU gescheitert, weil sie unter dem Niveau kultureller Modernisierung blieben, das die Bundesrepublik inzwischen erreicht hat. Deutschland hat kein Problem mit den 68er. Was von denen blieb – eine Erweiterung des Wertehorizonts – , ist integriert. Deutschland hat ein Problem mit Wertsynthesen. Die Politik scheitert daran, ökonomische mit kultureller Modernisierung zu verbinden.

Es gibt eine ökologisch-kulturelle Mehrheit, aber sie wird nur von Rot-Grün repräsentiert. Gleichzeitig, und überschneidend damit, existiert eine Mehrheit für ökonomische Modernisierung, sie setzt auf Schwarz-Gelb. So sind die völlig unterschiedlichen Wahlergebnisse vom 22. September und dem 2. Februar zu erklären. Gefragt ist ein Akteur, der die Spaltung in kulturelle und ökonomische Modernisierung überwindet und darüber hinaus an der sozialen Frage von heute nicht scheitert.

Alle haben Probleme, eine Balance zwischen ökonomisch-sozialstaatlicher Modernisierung und sozialer Gerechtigkeit hinzubekommen. Fragt man, wer am ehesten „für soziale Gerechtigkeit sorgt", nennen deutlich über 50 Prozent die Parteien links von der Mitte, nur rund 30 Prozent Schwarz-Gelb. Auch hier gehen Spuren in die 60er zurück. 1968 war eine Weggabelung des „neuen Bürgertums". Erstmals in der deutschen Geschichte begannen größere Teile der Bessergebildeten und – später – Besserverdienenden den Wert sozialer Gerechtigkeit höher einzuschätzen als die Verteidigung sozialer Benachteiligung und Ungleichheit.

Wie in keiner Partei haben die solidaritätsbereiten Besserverdienenden sich heute in der Wählerschaft der Grünen zusammengefunden. Diesen Verrat hat das alte dem neuen Bürgertum immer noch nicht verziehen. Die 68er waren nur der Ausgangspunkt solcher Entbürgerlichung und Nivellierung, für die die bewegungs- und konfliktgeprägten Generationen der 70er und 80er Jahre viel mehr beigetragen haben. Aber die 68er sind, als die Erfinder dieser bürgerlichen Sozialwende, Zielscheibe der Kritik geblieben.

Die Wirtschaftsfremdheit der 68er stand in Traditionen des kulturhybriden deutschen Bildungsbürgertums. Aber schon in den 70ern entwickelte sich die alternative Ökonomie kleiner Selbständiger. In den 80er Jahren kamen auch Volks- und Betriebswirte zu den Grünen, andere lernten nachträglich die Regeln der real existierenden kapitalistischen Ökonomie. Schließlich erteilte auch das „Handelsblatt" gute Noten. Inzwischen liegt der Selbstständigen-Anteil der Grünen auf dem gleichem Niveau wie der der FDP.

1968 war ein Sprung nach vorne, die Gesellschaft ist heute dabei, ihn durch Synthesen einzuholen. Dabei sind die Bürger weiter in ihrem Vereinbarkeitsdenken als die Politiker. Denen sind überzeugende Wertsynthesen bisher nicht gelungen. Eher fällt auf, dass einige rot-grüne Spitzenakteure gelernt haben, sich in den raubeinigen Bewegungsmilieus seit den 60er Jahren durchzusetzen. Die Junge Union, in der es nicht zimperlich zugeht, ist ein Schonraum im Vergleich zum Sozialdarwinismus altersgleicher Bewegungsaktivisten, die im freien Stil gegeneinander kämpften. Die Übriggebliebenen, die Abgebrühtesten regieren uns. Sie sind heute in etwa so, wie man 1968 nicht sein wollte: autoritär, selbstverliebt, Träger von Charaktermasken, wie man damals sagte.

Der Autor ist Parteienforscher.

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