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Nach den Parlamentswahlen: Europa braucht ein Volk
Der Erfolg der rechten Parteien bei der Wahl zeigt, dass das europäische Gefühl verloren gegangen ist. Will die EU trotzdem überleben, muss sie Identität über die Nationen und die Vergangenheit hinaus stiften.
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In einer Zeit, in der die Europäische Union die bitteren – von Enthaltung und durch das Erstarken der rechtsextremen Parteien gekennzeichneten – Wahlergebnisse wahrnimmt, vor allem auch in Frankreich, sollten wir für einen Moment versuchen, uns von der Perspektive der Ängste und Ressentiments loszumachen, um in die Zukunft zu blicken.
Eine politische Europäische Union ist langfristig nur dann denkbar, wenn sich daraus ein „europäischer Demos“ entwickelt, eine Nation über die Nationen hinaus. Die EU braucht ein Volk, denn ohne dieses bliebe von der Demokratie nur „kratos“, die Macht. Die Abwesenheit von Volk führt, kurz- und mittelfristig, zum Erfolg der Separatisten und Populisten, von Großbritannien über Frankreich bis Ungarn, zu der Bewegung der identitären Reterritorialisierung. Deshalb müssen wir diese Abwesenheit aufrufen, um das abwesende europäische Volk gegenwärtig zu machen.
Jeder, der an das europäische Projekt für das 21. Jahrhundert glaubt, muss sich irgendwann die Frage nach der Sprache und ihrem Bezug zu der Idee der „europäischen Nation“ stellen. Welche Sprache wäre denn die einer Nation jenseits der Nationen? Nach den Revolutionen und Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts wissen wir, dass die Nation etwas fürchterlich Ambivalentes in sich trägt: emanzipatorisch, generös, wie das der Fall 1848 war, quer durch Europa. In Paris, Berlin, Wien, ist sie oft abschreckend, verachtungswürdig, auf sich selbst, ihre Partikularismen, ihre Identität bezogen. Auch im zeitgenössischen Europa ist diese Form der Selbstbezogenheit noch am Werk, einer Festung gleich. Seit Schengen und dem Beginn des 21. Jahrhunderts schottet sich die Europäische Union ab und verkümmert.
Europa bewegt sich nach rechts
Demnach gibt es nicht die „Rückkehr der Nationen“ auf der einen Seite und das europäische Projekt auf der anderen Seite. Sie sind verbunden: die EU und die Nationalstaaten, mehr oder weniger krank, mehr oder weniger verängstigt. Jedoch bewegt sich Europa in seiner Gesamtheit, seit dem Krieg in Ex-Jugoslawien, nach rechts oder extrem rechts, hin zur Identität. Ihnen die Identität, sagen die europäischen Verträge den Staaten (die Rückkehr zu Nationalismen), und uns die Flüsse, die Deregulierung und die Konkurrenz (der liberale und sichere Kompromiss der EU).
Um dieser reduzierenden, identitären Sichtweise auf das „europäische Wesen“, welches stetig und proportional zur Krise zunimmt, zu entgegnen, sollten wir dringend nach einer „europäischen Nation“ rufen. Zur offenen Nationenbildung in einem mehrsprachigen Raum wie Europa, mit vielschichtigen Geschichts- und Exilerfahrungen, zur Öffnung gegenüber Wissen, Bildung und Kenntnis, befreit von Ängsten gegenüber den anderen, geprägt von Emanzipation und einer Neudefinierung der bürgerschaftlichen Verbindungen, gibt es für mich ein Stichwort: „Übersetzung“. Dieses Wort bildet den Schlüssel zu einem neuen Denken der ökologischen und politischen Bürgerschaft, einer weiter gefassten sozialen Bindung, die verschiedene Identitäten zulässt. Mein Traum von dieser neuen Nation ist es, dass sie sich sofort in Bewegung setzt, um der großen Welle der Schande (die Rückkehr der rechtsextremen Parteien und der alten, xenophoben Dämonen) entgegenzutreten. Um das europäische Projekt wieder zu beleben.
Die nationalen Mythen stimmen nicht mit der Realität überein
Leider verharren wir nach wie vor in alten Denkmustern, in welchen die Zugehörigkeit zu einer Nation – oder einem Volk – als etwas von Geburt Gegebenes gesehen wird. Ausgehend von der Muttersprache, der Bildung, der Wertegemeinschaft, der Geschichte, der Kultur, der Territorialität und der Grenzen. Hier handelt es sich um bestätigende, „fortdauernde Mythen“ (Nation, Sprache, Territorium, Staat). Diese nationalen Mythen stimmen allerdings nicht mehr mit unserer Lebensrealität überein. Dabei leben wir schon längst in einem mehrsprachigen, plurinationalen Raum. Wir leben in „Zwischenräumen“, zwischen Realität und Fiktion, zwischen zwei Ländern, zwischen der gewählten und der Geburtsstadt.
Das Luftwesen, das das Europa der Nationen verachtet, das seid ihr, das bin ich, das sind unsere Kinder und Kindeskinder. Diese Situation verlangt danach, den Zugehörigkeitsbezug, in Einklang mit der Realität dieser zerrissenen Leben, zu überdenken. Die Definition des europäischen Bürgers im 21. Jahrhundert als „übersetzenden Bürger“ lässt verschiedene Ausdruckmöglichkeiten zu: den Bezug zu seiner Stadt, seiner Gegend, seinem Land – und einem weiter gefassten Raum, in dem „Übersetzung“ eine gemeinsame Sprache bildet. Diese fiktionalen Leben leben, wie auch das reelle. Hierbei wird Zugehörigkeit nicht mehr als etwas Gegebenes betrachtet, sondern als Übersetzungsgeste sich selbst und den anderen gegenüber, oder um sich zwischen den Sprachen, Genres, Ritualen, Treueverhältnissen und Herausforderungen aufzuhalten, dort, wo das Leben und die Kultur uns hingebracht haben.
Übersetzung ist die Sprache Europas
Im 19. und 20. Jahrhundert existierte eine grundsätzlich europäische Sprache, die die Grenzen von Russland bis Frankreich überschritt und die von Exil und Unterdrückung geprägt war, doch ebenso getragen von der Hoffnung auf Emanzipation über die Grenzen hinweg. Eine Art europäisches Kreolisch, das sich durch andere Sprache bereicherte und welches in zwei Alphabeten geschrieben werden konnte. Das in den jüdischen Gemeinden über Europa hinweg gesprochene und geschriebene Jiddisch ist zerstört worden. Diese Sprache geistert noch durch Europa. Über ihre Zerstörung können wir die zu erfindende Bürgerschaft der Übersetzung verstehen. Europa als etwas denken, das sich nicht auf erloschene Erinnerung und unerreichbare Identität gründet, sondern auf die Welten „dazwischen“, rund um ein die Zukunft vorbereitendes Triptychon von Übersetzung, Migration und Hybridisierung.
Die EU hat einen Markt geschaffen, kein Land

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Wir sollten heute den europäischen Raum nicht aus dem Nebeneinanderstellen von Nationalterritorien begründen, sondern als Migrationsraum, der, auf jeder Ebene unserer Gesellschaften, politischer und pädagogischer Übersetzung bedarf. Wir sollten den europäischen Raum als etwas Emanzipatorisches begreifen, und nicht ausgehend von halluzinierten Essenzen – einer französischen, einer deutschen oder einer dänischen Volks-Essenz –, sondern zurückliegenden und künftigen Hybridisierungen. Vielfalt in Zukunft zulassen und anerkennen, um unterschiedliche Bindungen und Loyalitäten zu denken: Das wäre der Sinn dieser Sprache der Sprachen. Also nicht die „nationale Emanzipation“ des 19. Jahrhunderts. Auch nicht die „abstrakte Emanzipation“ des Marxismus, im 20. Jahrhundert. Sondern eine Emanzipation der Bewegung, zwischen Identitäten, zwischen Sprachen und Kulturen. Politiker, die nach einem neuen Narrativ suchen, möchte ich fragen: Werden Sie den Mut haben, Ihre monolinguistische Sichtweise von Nation über Bord zu werfen, um eine offene Welt der „Bürger-Übersetzer“ vorzubereiten und zu begleiten? Die Europäische Union hat einen Markt entworfen, kein „Land“. Die Dinge können sich über einen Markt entwickeln, doch die Menschen brauchen ein „Land“. Welches Land, welche Form der Bürgerschaft könnte also dem europäischen Raum, nicht in den Bilanzen, sondern in den Herzen, Anker sein?
Den zukünftigen Europäer kann man sich als „Bürger-Übersetzer“ oder „Trans-Bürger“ vorstellen: Zum einen als Upgegradeten, wie Joaquin Phoenix im letzten Film von Spike Jonze, der permanent mit einer künstlichen Intelligenz verbunden ist. In diesem Fall hätten wir den posthumanen Traum von Silicon Valley akzeptiert. Indifferent gegenüber der Welt, der Sprache und dem Affekt. Wir würden Google-Brillen tragen, die die Zeitungslektüre automatisch übersetzen. Ein Knopf im Ohr übersetzt, was das Gegenüber sagt. Ein mit einem Spracherkennungssystem verbundenes Mikro würde uns befähigen, alle europäischen Sprachen zu sprechen. Diese technologische Vision lässt einen tatsächlich an eine Nation jenseits der Sprachen glauben, welche diese Übersetzung als Gemeinsamkeit hat.
Es braucht eine neue politische Vision
Doch stellt man sich einen dergestalt technologisch orientierten europäischen Bürger vor, dann ignoriert die EU die Frage der „Nation“, wie auch die Frage nach der emotionalen Bedeutung und Intensität von Sprache, sollte sie auf ihre technische Dimension reduziert bleiben. Diesen Fehler hat die EU im Laufe ihrer gesamten Geschichte begangen, seit dem Vertrag der EKGS (1951). Die Theoretiker der europäischen Konvergenz nehmen an, ein funktionalistisches Gefolge würde ausreichen, damit sich daraus eine „Nation“ bilde. Die Gründerväter, von Jean Monnet bis Jacques Delors, haben sich da leider geirrt. Der demokratische „demos“ wird nicht aus institutionellen Anordnungen rationeller Bürger geboren. Er wird aus einer gemeinsamen Emotion im Ringen um Freiheit und Emanzipation geboren. Er wird im Sieg über das, was ihn ausmacht und was sich ihm entzieht, geboren. Er nährt sich aus Gelebtem, affektiv Erlebtem, einer ersehnten Erschütterung, um das Gemeinsame voranzubringen.
Wollen wir uns weiterhin europäisch fühlen – und so ist es bei mir der Fall –, dann im Namen einer affektiven Bindung zu einer literarischen, intellektuellen, künstlerischen oder persönlichen Geschichte von interkulturellen Beziehungen, als über die Konsolidierung bürokratischer Funktionäre. Es geht darum, diese Opposition zwischen einem affektiven Europa und einem Europa ohne Affekte, einem ersehnten, emotionalen Europa – dem der Welten, der Sprachen, des Exils, der Migration und der Toten – und dem Europa des Euro-Lands, das zu einer reaktionären Maschine geworden ist, bewusst zu erkennen. Von diesem Bruch ausgehend schlagen wir vor, eine Poetik des Dazwischen zu entwickeln, einen geteilten Affekt, um die alten EU-Funktionäre zu erschüttern und eine neue politische Vision des europäischen Raums im 21. Jahrhunderts voran zu bringen.
Das europäische Gefühl ging verloren
Um die „nationalen Revolutionen“ zu kontern, rufen wir alle auf, die diese Welt des „Dazwischen“ tragen, tatsächlich einen europäischen „demos“ hervorzubringen. „Übersetzung ist die gemeinsame Sprache Europas.“ Diesen Satz von Umberto Eco zitieren wir gerne. Doch zunächst muss man den politischen Gehalt darin verstehen. Im Europa des 21. Jahrhunderts, in dem sich Kulturen und Sprachen mischen, in dem junge Spanier ins Arbeitsexil nach Deutschland gehen, Polen oder Chinesen nach Frankreich oder Italien emigrieren, ist Übersetzung keine Angelegenheit kosmopoliter Eliten mehr. Sie wird zum Herzstück unserer Beziehung zur Welt. Die Affirmation einer Bürgerschaft der Übersetzung wäre in Europa eine dreifache Revolution: 1. Den zu schaffenden Demos als ein Bemühen der Übersetzung zwischen den Identitäten begreifen. 2. Die Aufrechterhaltung eines politischen Bewusstseins des Sprachlichen, im Gegensatz zur Entwicklung einer technokratischen Sprache. 3. Das europäische Projekt auf etwas aufbauen, das migrantische Kulturen nicht zurückweist, sondern daraus einen seiner Bezugspunkte entwickelt.
Die EU ist um ein Phantomvolk herum aufgebaut
Wenn wir nach diesen Wahlen den Verlust des „europäischen Gefühls“ beklagen, dann liegt das daran, dass sich dieses Gefühl abschwächt, in dem Moment, in dem wir von einer erinnernden Generation zu einer vergessenden Generation übergehen. Wir können das Vergessen nicht ewig vermeiden. Die Vergangenheit, welche das europäische Projekt legitimiert hat, entfernt sich. Aus dieser Vergangenheit hat sich ein europäisches Phantomvolk entwickelt. Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind, Frauen, Männer und Kinder, die vor und im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind, bis 1989 Dissidenten aus dem Osten. Wir haben die EU um ein Volk der Toten aufgebaut. Doch wenn wir das Europa-Projekt im 21. Jahrhundert weiterbringen wollen, sollten wir die Basis dafür nicht auf einem Phantomvolk, sondern auf einer zukünftigen Nation aufbauen, in der es Hoffnung und Anspruch gibt. Unser Wunsch ist es doch, dass diese Nation wagemutig ist. Und wenn wir bereits jetzt wissen, dass Übersetzung ihre Sprache ist, dann sollten wir aus dieser Sprache den Sinn, die Ethik sowie eine Politik der Imagination beziehen.

© Ghila Krajzman
Camille de Toledo, 1976 unter dem Namen Alexis Mital in Lyon/Frankreich geboren, ist Schriftsteller, Musiker, Fotograf und Videokünstler. Den Text trug er anlässlich des „Al Mercato Forum zur Politischen Kommunikation in Europa“ im Mai 2014 bei der Stiftung Mercator in Berlin vor. Seinen Text übersetzte Daniela Dibelius
Camille de Toledo
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