Meinung: Fantastischer Schrecken und Fantasterei
Nach vier Monaten NSA-Skandal hat sich politisch nichts verändert. Warum eigentlich?
Stand:
Das EU-Parlament will ernst machen. In einer knappen Abstimmung haben die Abgeordneten am Mittwoch eine Resolution beschlossen, in der sie fordern, das Abkommen der EU mit den USA über die Weitergabe von Bankverbindungsdaten, das sogenannte Swift-Abkommen, auszusetzen. Damit reagierte das Parlament auf Berichte der Zeitung „Le Monde“, die sich auf Dokumente aus dem Fundus von Edward Snowden beruft. Trotz des Abkommens, das den USA Zugriff auf die Daten zu Zwecken der Terrorabwehr gewährt, soll sich die NSA in die Server des privaten Dienstleisters Swift eingehackt haben.
Die Resolution ist die erste halbwegs konkrete politische Reaktion einer politischen Institution in Europa auf die Enthüllungen. Gut vier Monate ist es nun her, dass der „Guardian“ die ersten Snowden- Dokumente veröffentlicht hat und noch immer werden beinahe wöchentlich neue Details bekannt. Politisch verändert hat die Flut der Informationen bislang allerdings genau: null Komma nichts. Anfangs wurden Protestbriefe geschrieben, die unbeantwortet blieben.
Peer Steinbrück forderte im Wahlkampf einmal, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA so lange aussetzen, bis Letztere die Dimension ihrer Spionage in Europa aufgeklärt hätten – das hat die SPD inzwischen vergessen. Im August erklärte Ronald Pofalla, sozusagen ex cathedra, die Affäre für beendet, und tatsächlich spielte das Thema im weiteren Wahlkampf kaum eine Rolle, geschweige denn in den Sondierungen. In den USA ist die einzige konkrete Konsequenz aus dem Skandal, dass die NSA demnächst einen „Beauftragen für den Datenschutz und die Bürgerrechte“ bekommt. Und auch die Intervention des Europäischen Parlaments wird wohl verhallen. Die Mitgliedsländer und die Kommission müssten zustimmen, und das ist nicht zu erwarten.
War da was?
Ja, da war was. Das Ausmaß der Überwachung eigener und ausländischer Bürger ist und bleibt monströs. Fassen wir grob zusammen, was seit Juni aus dem offenbar unerschöpflichen Dokumentenfundus des Edward Snowden berichtet wurde und bemerkenswerterweise zu großen Teilen von den Verantwortlichen nie dementiert wurde: Der amerikanische Geheimdienst sammelt die Telefon- und Internetdaten von Millionen amerikanischen und ausländischen Bürgern, angefangen mit Telefonverbindungsdaten bis hin zu Adressbüchern und Kontaktlisten.
Das geschieht nicht verdachtsabhängig, sondern flächendeckend. Große Internetkonzerne wie Google und Facebook gewähren den Geheimdiensten Zugang zu ihren Servern. Verschlüsselungen werden gehackt oder von den Herstellern von vornherein mit einer „Hintertür“ für die Dienste ausgeliefert. Der britische Geheimdienst saugt den Datenverkehr aus den Unterseekabeln direkt ab. Die Kontrolle dieser Programme durch Parlamente und Gerichte ist minimal. Und wo die rechtliche Deckung nicht ausreicht, sammelt man eben außer Landes.
Das alles wissen wir. Und wissen es auch nicht. Der NSA-Skandal zeigt, wie weit die Kluft zwischen Information und Bewusstsein sein kann. Die europäische und amerikanische Öffentlichkeit sind so gut über die Machenschaften ihrer Geheimdienste informiert wie nie – ein Konsens über die Bedeutung dieser Informationen, eine Übereinstimmung darüber, ob das nun ein Problem ist oder nicht, hat sich auch nach vier Monaten Skandal nicht etabliert.
Die Ursachen dafür sind vielfältig und schon oft beschrieben worden. Die Standarderklärung lautet: Ein Einbruch in das digitale Leben wird eben anders wahrgenommen als das Verwanzen einer Wohnung. Nach vier Monaten politischer (Nicht-)Reaktion kann man aber auch sagen, dass die Unschlüssigkeit über die Bedeutung dessen, was wir wissen, auch Resultat einer effektiven Beschwichtigungspolitik ist – diesseits wie jenseits des Atlantiks. Die Wege waren dabei jeweils andere, je nach nationaler Mentalität sozusagen. Die Obama-Regierung ging in die Offensive: alles normal, alles notwendig, alles nützlich, alles bekannt, alles legal. Deutschland versuchte es defensiv: Da haben wir wohl noch viel zu lernen über das „Neuland“ Internet. Mutti stellte sich doof.
So bleibt die Affäre einerseits zu groß und zu neu, um Gestalt anzunehmen, andererseits zu klein, um Konsequenzen zu zeitigen. Die Enthüllungen verlieren sich – und das ist gewollt – irgendwo zwischen fantastischem Schrecken und Fantasterei.
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