Urteil zu Hartz IV: Heraus aus der Sackgasse
Kinder sind kein Prozentsatz vom Erwachsenenleben, sagt das Bundesverfassungsgericht. Eine politische Antwort muss endlich unsere Bildungsträgheit überwinden, die knappen öffentlichen Mittel klug da einsetzen, wo sie Kindern nützen. Sie muss mit Mindestlöhnen den Fall der Einkommen nach unten stoppen.
Kinder sind kein Prozentsatz vom Erwachsenenleben, sagt das Bundesverfassungsgericht. Und zudem hat Karlsruhe daran erinnert, dass wir uns als staatliche Gemeinschaft darauf festgelegt haben, jedem Menschen ein Existenzminimum zu sichern. Ein erhabenes Richterwort, zugleich ein niederschmetternder Tag.
Nie war es, der Kinder wegen, so dringlich, das Sozialstaatsgebot einzuhalten. Doch noch nie war es auch so schwierig. Letzteres hat das Gericht indirekt dadurch unterstrichen, dass es sich von konkreten Antworten ferngehalten hat, was die Politik denn nun tun müsse. Das Urteil rückt das entscheidende Problem ins Zentrum: 1,7 Millionen Kinder unter 14 Jahren leben mittlerweile von Hartz IV. Jedes sechste Kind in Deutschland, Tendenz steigend. Berlin bildet es lupenrein ab. Die Stadtteile mit den hohen Arbeitslosenraten haben einen Reichtum – hohe Kinderzahlen. Wer das Schicksal dieser Kinder zur Privatangelegenheit ihrer Eltern erklärt, sollte zur Kenntnis nehmen: Wenn wir sie in Sackgassen entlassen, gehen wir mit unserem einzigen Rohstoff, der Produktivität der Köpfe, äußerst dumm um. Erste Erkenntnis: Die „Problemkinder“ sind die demografische Hoffnung des Sozialstaats.
Aber die zweite lautet: Soziale und Bildungssackgassen entstehen nicht nur durch materiellen Mangel, sondern auch durch die traurige Kinderarmut, die Exklusion heißt. In solchen Kinderleben fehlen Vereine, Musik, Sport. Vor allem aber die Erfahrung, dass die Eltern durch Arbeit, aus eigener Kraft ihren Weg gehen. Mehr Hartz IV für alle, das wäre deshalb eine trügerische Antwort, nicht nur, weil sie teuer ist. Sie wäre, ganz auf der Linie der allgemeinen Einstellung zur alten Sozialhilfe, ein Ausdruck von Gleichgültigkeit: Wenn wir diese Leute alimentieren, dann kann uns ihr Leben egal sein.
Die wichtigste Absicht der Hartz-Reformen muss fünf Jahre danach als gescheitert angesehen werden. Diese Reformen waren der erste Versuch, den bundesdeutschen Sozialstaat zukunftsfest zu machen, der unter dem Druck von Demografie und Globalisierung nicht mehr aus Zuwächsen umverteilen kann. Die Diagnosen, die Rot und Grün damals zu dieser Reform bewegt haben, kann das Verfassungsgericht nicht aus der Welt schaffen. Transferleistungen müssen von Steuerzahlern erwirtschaftet werden. Mit dem Transfer wachsen die Arbeitskosten. Und je teurer die Arbeit, desto schwieriger der Arbeitsmarkt.
Das Prinzip Fordern und Fördern hat nur kurze Zeit Früchte getragen, dann ist es unter die Räder gekommen. Erst, weil Unternehmen die neue Flexibilität des Arbeitsmarkts, vor allem bei der Leiharbeit, erpresserisch und in großem Stil zu ihren Gunsten ausgenutzt haben. Dann, als die Finanzkrise die bescheidenen Erfolge auf dem Arbeitsmarkt aufgefressen hat. Nichts mehr da, um zu fördern.
Die Konsequenzen? Die Kindersätze müssen schon deshalb erhöht werden, weil Kinder schneller wachsen. Gesundes Essen, Theater, Musik und Sport in Ganztagsschulen helfen mehr. Eine politische Antwort muss endlich unsere Bildungsträgheit überwinden, die knappen öffentlichen Mittel klug da einsetzen, wo sie Kindern nützen. Sie muss mit Mindestlöhnen den Fall der Einkommen nach unten stoppen. Niederschmetternd ist dieser Tag, weil die Bundesregierung, trotz dieses erwartbaren Urteils, die knappen Mittel sinnlos vergeudet. Von der Kindergelderhöhung hat keines der 1,7 Millionen Kinder etwas gehabt, nicht zu Hause und nicht in der Schule.
Die englische Übersetzung des Kommentars auf "The Local"