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Meinung: Hinter der Netzhaut

Von Herbert Grieshop WO IST GOTT London an einem Sonntag. Mich überfällt die Sehnsucht, nach langer Zeit mal wieder eine Messe zu besuchen.

Von Herbert Grieshop

WO IST GOTT

London an einem Sonntag. Mich überfällt die Sehnsucht, nach langer Zeit mal wieder eine Messe zu besuchen. Die OxbridgeFreunde plädieren für das Brompton Oratory im feinen Kensington. Hier geht das Establishment zur Kirche, alter Adel, Tory-MPs und berühmte Schriftsteller neben katholischem Fußvolk. Aber der Besuch wird zur Enttäuschung. Der massive neobarocke Kirchenbau ist von innen noch kälter und abweisender als von außen. Mit hohem zeremoniellen Aufwand – Priestern und Messdienern, Vorsängern und großem Chor – gelingt es innerhalb kürzester Zeit, die Gemeinde zum Schweigen zu bringen. Ästhetisch gesehen eine perfekte Inszenierung, aber ein Ritual, das so sehr das Leben draußen ausschließt, muss eine ernüchternde Erfahrung bleiben.

Abends im Kino. "Das Fest" ist angekündigt. Die Geschichte von der Familienfeier, auf der ein Sohn aufdeckt, dass sein Vater mit dem Wissen der Mutter jahrelang die Kinder sexuell missbraucht hat, ist einer der beeindruckendsten Filme der letzten Jahre. Mit dem Mut der Verzweiflung gelingt es dem Sohn in immer neuen Anläufen, die glatte Familienfassade abzuhauen und den darunter liegenden Schwamm freizulegen. Der Zuschauer fährt auf einer Achterbahn großer Gefühle – Scham, Mitleid, Bewunderung, Abscheu, Zuneigung. Nach einer turbulenten Nacht hat sich eine neue Familienordnung gebildet, der Vater wird beim Frühstück seines Platzes verwiesen. Offenes Ende, das Leben geht weiter, spätere Versöhnung nicht ausgeschlossen. Die Zuschauer so erschöpft wie die Protagonisten. Von einem unerwarteten Glücksgefühl überwältigt verlasse ich das Kino und laufe desorientiert und zugleich wie befreit durch das nächtliche Soho. Das also meinen die Griechen, wenn sie von Katharsis sprechen. Die Wirklichkeit sieht plötzlich anders aus, klarer, vielschichtiger, lebendiger.

Und wo ist Gott? Oft gerade da, wo man ihn nicht sucht. Manchmal sogar im Kino. Dann, wenn es einem Film gelingt, uns zu entlassen mit einer neuen Begeisterung für die Welt. Wenn man aus der Dunkelheit ins Freie tritt mit dem Gefühl, sich wieder in das Leben mit all seinen Konflikten und Spannungen verliebt zu haben. Diese spirituelle Aufgabe hat der Philosoph und Kinogänger Siegfried Kracauer auf die schöne Formel gebracht, beim Film gehe es um die "Erlösung der materiellen Wirklichkeit." Man kommt mit geschärften Sinnen aus dem Kinosaal. Epiphanien gibt es allerdings auch im Kino nicht auf Bestellung. Vielmehr sind die Voraussetzungen dafür ähnlich wie in der Kirche: Konzentration der Wahrnehmung, Einfühlung und – Hingabe.

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