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Der neue israelische Polizeiminister Itamar Ben-Gvir besucht trotz großer Proteste den Tempelberg in Jerusalem.

© AFP / -

Neue rechtsnationalistische Regierung: Es darf keine reflexartige Abkehr von Israel geben

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben in Israel jahrzehntelang Kriege und Krisen überstanden. Jetzt stehen sie vor einer erneuten Bewährungsprobe.

Ein Gastbeitrag von Josef Schuster

Was war und ist des Juden Heimat – Israel oder die Diaspora? Der Historiker Michael Wolfssohn beantwortete diese Frage unlängst mit dem Hinweis, diese Entscheidung sei immer nur individuell. So gebe es aber immer zwei Judentümer. Eines im Land Israel und eines in der Diaspora – beide auch in sich kaum einheitliche Gebilde.

Das heißt aber nicht, dass sich diese Judentümer nicht gegenseitig beeinflussen, verknüpft sind, ja vielleicht sogar bedingen. Es bewegt daher Juden in aller Welt, wenn im jüdischen Staat eine neue Regierung vereidigt wird.

Es geht nicht spurlos an den jüdischen Gemeinschaften der Diaspora vorüber – nicht, wenn Minister dieser Regierung sich in rassistischer, diskriminierender und verstörender Weise äußern. Positionen, die innerhalb der jüdischen Welt nicht mehrheitsfähig sind. In ihr gelten Menschlichkeit, demokratische Werte und der Wille zum Frieden.  

Weite Teile der israelischen Bevölkerung lehnen den angekündigten Kurs der neuen Regierung ab.

Josef Schuster

Ich lehne vieles in der neuen israelischen Regierung ab, und es wird notwendig sein, sich weiterhin kritisch mit ihr und ihrer Arbeit auseinanderzusetzen. Einschlägig vorbestrafte Rechtsextreme im Kabinett oder Gesetzesänderungen, damit korrupte Politiker Minister werden können sind ein Tiefpunkt der israelischen Politikgeschichte.

Auch für viele Likud-Abgeordnete muss die Vereidigung dieser rechts-religiösen Regierung ein mulmiger Moment gewesen sein. Es gilt, klar zu benennen, was gegen die tradierten freiheitlichen Werte Israels verstößt. Das moderne Israel ist als Gegenmodell zu Menschenverachtung und Ungerechtigkeit entstanden. Dem Land und seinen Menschen gehört auch in diesen Zeiten unsere Solidarität.

Es darf keine reflexartige Abkehr von Israel geben. Das schließt ein, dass wir nicht in rein gefühlsmäßige Bewertungen verfallen, sondern Vernunft und Maß halten, wie es unter demokratischen Staaten üblich ist, auch wenn einzelne Positionen und Handlungen aus diesem Wertekanon fallen mögen.

Es darf keine reflexartige Abkehr von Israel geben.

Josef Schuster

Weite Teile der israelischen Bevölkerung lehnen den angekündigten Kurs der neuen Regierung ab – das belegen Umfragen und das zeigt sich in öffentlichen Protesten. Die Mehrheit der Menschen haben Angst und Sorge um ihr Land. In demokratischen Gesellschaften kann dies kein dauerhafter Zustand sein, darauf müssen wir vertrauen – umso mehr, wenn die neue Regierung ankündigt, in Trump-Manier an der Unabhängigkeit der Gerichte zu schrauben. 

Der Besuch des neuen Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, auf dem Tempelberg nur Tage nach seinem Amtsantritt war eine Provokation, das steht außer Frage. Eine Provokation allerdings, die den geltenden Status Quo dieses Ortes nicht verletzte. Das stellte in seiner Kritik an dem Besuch auch der Oppositionsführer und ehemalige Ministerpräsident Yair Lapid fest. Er hatte die Autorität dies zu tun und die Botschaft, die er sendete, war klar und wichtig.  

Viel des Lärms, der um den Besuch vor allem in der westlichen Welt gemacht wurde, spielte der nationalistischen Politik Ben-Gvirs in die Karten. Die Bekräftigung Ministerpräsident Netanjahus, dass keine Änderung des Status Quo auf dem Tempelberg beabsichtig sei, ging in der Empörung unter. Genauso wie die auffällig bedachte Reaktion der arabischen Welt, die mehrheitlich auf eine Fortführung von Netanjahus Politik des Abraham-Abkommens setzt.  

Es bewegt Juden in aller Welt, wenn im jüdischen Staat eine neue Regierung vereidigt wird.

Josef Schuster

Ben-Gvir hingegen ist an einer Eskalationsspirale mit der Terrororganisation Hamas interessiert, für die es im Übrigen keinen Unterschied darstellt, wer in der israelischen Regierung sitzt, um die Auslöschung des jüdischen Staates zu fordern. Und sie tat ihm den Gefallen.

Der Minister nahm dies zum Anlass, um dann letztendlich zu erklären, dass er sehr wohl ein Gebetsrecht für Juden auf dem Tempelberg beabsichtige – das wäre die bereits herbeigeredete Änderung des Status Quo. Dass es dazu kommen wird, ist äußerst unwahrscheinlich. Schon häufig in der israelischen Geschichte waren neue Regierungen mit Untergangsszenarien überzogen worden. Sie haben sich bisher immer selbst überwunden.  

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben in Israel jahrzehntelang Kriege und Krisen überstanden – sie stehen nun vor einer erneuten Bewährungsprobe. Sie kommt ausnahmsweise nicht von außen, sondern von innen. Sie bedeutet nicht, dass eine Mehrheit der Israelis rechtsextrem oder theokratisch ist, sondern sie ist ein Produkt der Ausweglosigkeit des israelisch-palästinensischen Konflikts. Wir sollten den Mut haben, dies anzusprechen.  

Und sie kommt zur Unzeit, wie die Beschimpfungen gegen Israelis am Rande der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar und auch hier der steigende Antisemitismus auf den Straßen sowie in der Kunst- und Wissenschaftswelt zeigen. Entgegen dieser Tendenzen darf es doppelte Standards nicht geben; weder in der Anklage der Regierung, noch in ihrer Verteidigung. 

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