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Bundespräsident Christian Wulff steht weiter unter Druck: Er soll versucht haben, kritische Berichterstattung zu verhindern - durch eine Intervention bei Bild-Chefredakteur Kai Diekmann.

© dapd

Kreditaffäre des Bundespräsidenten: Können wir noch vergeben?

Die Diskussion über den Bundespräsidenten ist ein guter Anlass, darüber nachzudenken, ob wir Vergebung als eine öffentliche Kategorie gelten lassen können. Vielleicht appelliert Bundespräsident Christian Wulff an etwas, das es nicht mehr gibt.

Zum Jahreswechsel 1076/77 war der deutsche Kaiser Heinrich IV. politisch am Ende. Im Machtkampf mit Papst Gregor VII. war er unterlegen. Das einzige Mittel, das ihm noch blieb, war die Bitte um Vergebung. So kam es Ende Januar zu dem berühmten Bußgang nach Canossa: der deutsche Kaiser im Büßergewand auf dem Weg zur Burg Canossa, in der sich der Papst aufhielt. Der reuige Sünder erreichte den Priester und bezwang den Machtpolitiker. Der Papst hob den Kirchenbann auf.

Die mittelalterlichen Menschen verstanden ihre politische Ordnung als eine gottgestiftete Gnadenordnung. Ihr Leitstern waren Werte wie Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung. Gregor konnte hoffen und glauben, dass die göttliche Gnade im Kaiser Einsicht in seine Sünde, Reue und Besserung bewirkte. In der Stimme seines priesterlichen Gewissens, die ihm zur Vergebung riet, konnte er die Antwort der Gnade in sich auf das Wirken der Gnade im Herzen des Kaisers vernehmen. Diese Gnadendimension konnte er von Amts wegen jedenfalls nicht einfach ausschließen; er musste Heinrich Gnade gewähren. Natürlich dürfen das Mittelalter und seine Machtkonflikte nicht idealisiert werden. Es geht nur um den Wertehorizont, der auch von Machtpolitikern respektiert werden muss, wollen sie erfolgreich sein. Die Motive meines Handelns bleiben mir letztlich selbst verborgen.

Was ist unser Wertehorizont? Was ist der Leitstern eines Staates, der sich säkular versteht? Kann eine sich pluralistisch verstehende Gesellschaft überhaupt auf das Sündenbekenntnis des Bundespräsidenten, seine Zerknirschung, seine Reue und sein Besserungsgelübde anders als mehrheitlich mit Hohn und Spott reagieren?

Es geht hier nicht um die Frage, ob Christian Wulff die volle Wahrheit gesagt hat oder ob seine Reue und sein Besserungswille echt sind. Die Frage ist, wir wir mit Menschen umgehen wollen, die zwar nicht straffällig geworden sind, aber moralisch versagt haben. Wollen wir eine Kategorie wie Vergebung als eine öffentliche Kategorie gelten lassen? Diese Frage greift tief in unser Selbstverständnis. Kann unsere Gesellschaft an Reue glauben und Vergebung gewähren? Oder ist das eine Kategorie, die uns abhanden gekommen ist, da wir als Gesellschaft auf keine Kraft mehr vertrauen können, die Menschen in Reue und Vergebung über sich hinaus wachsen lässt?

Kann es sein, dass der Präsident an eine Ressource appelliert, über die die pluralistische Gesellschaft nicht verfügt? Was würde das für historische Versöhnungsprozesse, überhaupt für Menschlichkeit bedeuten? Die Diskussion über den Bundespräsidenten ist ein guter Anlass, darüber nachzudenken.

Gerhard Beestermöller

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