Lesermeinung: Beobachtungen am „Zug der Erinnerung“
Vier Pfennig pro Häftling, 26.4.
Stand:
Vier Pfennig pro Häftling, 26.4. 2008
Ich stand über eine Stunde am Gleis vom Potsdamer Hauptbahnhof, als der „Zug der Erinnerung“ dort Halt machte. Ich wollte wissen, wie es damals war mit der Verantwortung der Deutschen Reichsbahn bei den Transporten von Kindern, mit dem Ziel „Tod“. Berichte in der Presse hatten mich auf diesen Besuch vorbereitet und neugierig gemacht. Ich nutzte die Wartezeit am Gleis, um die anderen Wartenden und ihr Verhalten zu beobachten. Dabei wurde ich Zeugin von vielen Gesprächen. Vor mir standen junge Leute, Fußballfans, die zahlreich zum Spiel Babelsberg 03 gegen Dynamo Dresden unterwegs waren. Ihre Gespräche führten sie leise, sie gingen behutsamer miteinander um als sonst. Ein junges Pärchen war mit drei Monate altem Nachwuchs da. Es schlief fest in dem Tragetuch der Mutter. Hinter mir wurde englisch und deutsch gesprochen. Besuch aus London bei Potsdamer Freunden, wie ich erfuhr. Eine 30-jährige Frau erzählte mir: „Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg unserem Land großes Leid zugefügt. Unsere Großeltern bekommen das nicht aus dem Kopf. Nun können wir ihnen erzählen, dass sich Deutschland der Vergangenheit stellt.“ Plötzlich erklangen Klarinettentöne. Klezmermusik. Harry Timmermann ließ sein Instrument singen, weinen, jubeln und schluchzen. Ich suchte das Gespräch mit ihm und erfuhr, dass die Klezmermusiker aus dem Berliner Raum, den „Zug der Erinnerung“ täglich begleiten wollten. Ein bewegender Entschluss, der mich und viele Wartende ergriff. Langsam und immer wieder stockend schob sich die Besuchergruppe in der Ausstellung von Thema zu Thema, von Fotos zu Dokumenten. Es wurde intensiv gelesen, betrachtet und darüber gesprochen. Es war kein Unterschied zu erkennen zwischen den Gesichtern auf den Fotos und denen, die sie anschauten – denn, woran erkennt man, wer Jude, Sinti, Roma oder Behinderter ist? Bei der zuletzt genannten Menschengruppe vielleicht schon - und ich hörte die Stimme einer Mutter: „Das hätte auch Dir passieren können“. Den hinteren Teil der Ausstellung passierten die Leute schneller. Hier schaute man denen ins Gesicht, die die Todeszüge zum Rollen brachten. Wieder auf dem Bahnsteig sprach ich das junge Paar mit dem Neugeborenen an und fragte, wie sie das Gesehene verkraftet hatten. „Einigermaßen“, sagten sie verlegen, „wir mussten hierher, um zu wissen, was passiert ist.“ Auf der Rolltreppe hörte ich: „Herrn Mehdorn hätte es gut zu Gesicht gestanden, dem Zug auf dem Berliner Hauptbahnhof ein Gleis zu geben.“
Helga Bornstädt, Potsdam
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