Lesermeinung: Bildungsreformen ohne GPS – Gewöhnung ans untere Mittelmaß
Zu: Brandenburg holt langsam auf. Im „Bildungsmonitor 2010“ belegt das Land Platz 14 im Ranking der 16 Bundesländer – mit Fortschritten“, 20.
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Zu: Brandenburg holt langsam auf. Im „Bildungsmonitor 2010“ belegt das Land Platz 14 im Ranking der 16 Bundesländer – mit Fortschritten“, 20.8.2010
Gewiss, die jüngsten Entwicklungen des GPS-Marktes (Global Positioning Systems) sind, nicht nur für heutige Schüler, beeindruckend. Doch was helfen sie dem, der vor Antritt seiner Reise nicht die exakten Zielkoordinaten einzugeben versteht? Nun mag der Eine oder Andere einwenden, die zahlreichen auch bundespolitischen Bildungsreformen der letzten Jahre seien Ergebnis komplexer Erwägungen. Sie könnten da nicht 1:1 etwa mit dem Kreativpotential eines Richtungsstreits zwischen Fahrer und Beifahrer unmittelbar vor Erreichen einer viel befahrenen Ampelkreuzung verglichen werden; schon gar nicht, wenn der Beifahrer dabei eine zerschlissene, zehn Jahre alte Karte auf den Knien hält. Manch ein Leser wird mir zumindest beipflichten, dass bei lernendem Suchen als Planungsgrundlage ein nahezu unerschöpfliches Zeit- und Spritbudget hilfreich ist. Wenn wir in der Bildungspolitik das Erreichen des mittleren Drittels innerhalb einer international abgeschlagenen Vergleichsgruppe als perspektivisch lohnendes Fernziel verkaufen, warum soll dann ein Brandenburger Schüler nicht stolz darauf sein dürfen, dass in seiner Deutscharbeit weniger als ein Rechtschreibfehler pro Zeile entdeckt wurde? Wenn keiner seiner bisherigen Englischlehrer jemals ein englischsprachiges Land bereiste, mit welchem Ziel sollte dieser Schüler dann Vokabeln lernen? Wenn zur Finanzierung des Schülerbafögs gerade auch bei den Schülern zahlreiche Stunden in Zentralabiturfächern ausfallen, deren Eltern keinen ergänzenden Nachhilfeunterricht bereitstellen können oder wollen, werden dies viele Schüler gerade nicht als Aufforderung verstehen, zum Beispiel ihren Mathematikunterricht zu Hause umso intensiver vor- und nachzubereiten. Wer selbst auf Platz statt auf Sieg setzt, provoziert die Gewöhnung an das (untere) Mittelmaß, auch im globalen Maßstab der Industrieländer. Haushaltszwänge als reine Sekundärerwägungen sind da eine schwache Ausrede. Prüfungen sind primär Rank- und Orientierungshilfen, die auch bei Rosen oder Orchideen keinesfalls zu kleineren Blüten führen. Grenzwertiger psychischer Stress für die Schüler entsteht nicht durch die Prüfungen selbst. So wird niemand behaupten, dass es etwa in Sachsen oder Bayern mehr verhaltensauffällige oder gar prüfungsneurotische Kinder gäbe als in Brandenburg. Vielleicht werden die dortigen Prüfungsmaßstäbe als unverzichtbare Bestandteile eines möglichst individuellen Gleichgewichts zwischen Fördern und Fordern gesamtgesellschaftlich konstruktiver unterstützt? Ist es wirklich sinnvoll, einen Schnellzug eine kürzere energiesparendere Strecke fahren zu lassen, weil wir in jungen Jahren viele Schüler ungefragt dort hineingesetzt haben, die eigentlich eine ganz andere innere Uhr haben? Schließlich käme auch niemand auf die Idee, ein ICE sei per se mehr wert als ein Regionalzug. Beide Verkehrsmittel erfüllen derart unterschiedliche Zwecke, dass diese ebenfalls nicht mit einem Kombiprodukt abgedeckt werden könnten ohne die Stärken beider erheblich zurückzubauen. Doch werden beide ausschließlich danach beurteilt, wie sie genau diesen eigenen Zweck erfüllen.
Martin Klemm, Vorsitzender des Freundeskreises des Helmholtz-Gymnasiums
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