Lesermeinung: Demoskopie
Zu: „Seid umschlungen, Millionen“, 20.9.
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Zu: „Seid umschlungen, Millionen“, 20.9. Erstaunt bin ich über die immer wieder – auch in Ihrer Zeitung – zu findende Fehleinschätzung über Demoskopie, man könne durch sie in die Zukunft blicken und somit Wahlergebnisse vorhersagen. Sicher wird die Güte von Wahlumfragen häufig an den tatsächlichen Wahlergebnissen gemessen, aber die Demoskopie ist – realistisch betrachtet – lediglich in der Lage, die Meinung der befragten Bürger zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erfassen. Meinungen sind aber nicht mehr langfristig festgelegt, sondern volatil, weshalb unter anderem Wahlkampf heutzutage bis zur letzten Minute geführt wird. Umfrageergebnisse können somit nur als Momentaufnahmen der Bevölkerungsmeinung bewertet werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir der tatsächliche Wahlausgang vom 18. September nach den im Vorfeld veröffentlichten Wahlergebnissen durchaus folgerichtig zu sein. Denn es wurde im Zusammenhang mit Umfrageergebnissen immer wieder betont, dass es bis direkt vor dem Wahltermin eine Vielzahl unentschlossener Bürger gab. Deren mutmaßliche Stimmabgabe ist meines Erachtens nur begrenzt vorhersagbar und hat vorher festgestellte Meinungsbilder sicher verändert. Des weiteren wurde von Umfragen ein bei den Bürgern bestehender Widerwillen gegen eine Große Koalition ermittelt, so dass sich vor diesem Hintergrund der tatsächliche Ausgang der Wahlen gut mit taktischen Manövern der Wähler erklären lässt, die sich, um entweder Rot-Grün beziehungsweise Schwarz-Gelb zu stärken, dafür entschieden haben, auf dem Stimmzettel ihr Kreuz bei dem jeweils kleineren gewünschten Koalitionspartner zu machen, und somit die Wahrscheinlichkeit einer Großen Koalition zu verringern. Meines Erachtens hat also die Demoskopie im Rahmen ihrer Möglichkeiten Erkenntnisse geliefert; die Möglichkeiten der Übertragung dieser Erkenntnisse auf das tatsächliche Wahlergebnis sind von anderen überschätzt worden. Birgit Eifler, Fahrland Zu: „Le sick man“, 5.10. „Schadenfreude is doch die schönste Freude“, mag der Kommentator gedacht haben. Und dürfte dabei zu kurz gesprungen sein: Allein die Ansicht, Frankreich habe das Prädikat des „kranken Mannes Europas“ Deutschland und Italien abgerungen, will nicht positiv klingen. Selbst unterstellt, dies sei so quod non, ist es doch wenig befriedigend, wenn Deutschland als Drittletzter noch absteigt. Hinzu tritt, dass die engen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich dazu führen, dass Deutschland die Auswirkungen einer Krise Frankreichs schnell zu spüren bekommen wird. Gerade den Streik in Frankreich als Zeichen für eine solche Krise zu werten, dürfte eine vorschnelle Folgerung sein: Auch in Frankreich kämpfen die Gewerkschaften allenfalls noch in Rückzugsgefechten. Dabei steht ihre Begeisterung für medienwirksame Massenstreiks einer konstruktiven Rolle im Wandlungsprozess der Arbeitswelt dergestalt entgegen, dass dies ihr Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit noch beschleunigt. Davon abgesehen hat Frankreich doch immer noch einiges, wovon Deutschland lernen könnte: Das gesellschaftliche Klima ist in weiten Teilen des Landes weit weniger resigniert und vergiftet als in Deutschland. Die französische Politik zeichnet sich durch mutige, aktive und visionäre Gesetzgebung. Dies und mehr sind Voraussetzungen, unter denen Frankreich den Kommentator bald eines Besseren belehren wird. Boris Strauch, Potsdam
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