Lesermeinung: Der Aller-Größte ?
Man kommt schwer darüber hinweg, dass viele Westdeutsche ausgerechnet Konrad Adenauer für den „Größten Deutschen aller Zeiten“ halten. Das ZDF hatte gefragt, und Goethe, Schiller, Luther, Bismarck, Kant oder Karl Marx fielen durch.
Stand:
Man kommt schwer darüber hinweg, dass viele Westdeutsche ausgerechnet Konrad Adenauer für den „Größten Deutschen aller Zeiten“ halten. Das ZDF hatte gefragt, und Goethe, Schiller, Luther, Bismarck, Kant oder Karl Marx fielen durch. Die halbe Welt kennt den Dichterfürsten Goethe seit zweihundert Jahren, allen protestantischen Christen weltweit ist der Reformator Martin Luther seit fast einem halben Jahrtausend geläufig, über eine Milliarde Chinesen und viele Menschen im Rest der Welt kennen den Philosophen und Kapitalismuskritiker Karl Marx. Wer kennt heute in Afrika, Australien, Asien, Amerika einen Konrad Adenauer? Konrad Adenauer war ein restaurativer Provinzpolitiker, der Berlin und die Metropolen nicht mochte. Deshalb passte er so gut nach Bonn am Rhein. Zu seinen Lebzeiten hätte es sicher auch keinen „Berlin-Beschluss“ gegeben. Er machte keine Experimente und hielt fest, was er hatte. Die Riesen-Chance, ein Großer der Weltpolitik zu werden, ließ er aus: 1953 offerierte Stalin auf seinem Sterbebett ganz Deutschland einen komfortablen Friedensvertrag. Adenauer lehnte sogar Vor-Verhandlungen ab. Wie kann man ihn da zum größten Deutschen wählen? Der gutbürgerlich-antifaschistische Adenauer erlaubte den Millionen Nazi-Mitläufern zu vergessen, zu verdrängen. Er ermöglichte vielen belasteten Tätern in Staat und Wirtschaft ein „Weiter-so“ im neuen Kleid, sorgte für wirtschaftlichen Wohlstand und neues Selbstbewusstsein. Viele Westdeutsche, die heute als Rentner alles haben, meinen, das ihm zu verdanken. Ist das nicht kleinlich-egoistisches Denken? Ein einziger Gedanke an nachfolgende Generationen oder die zementierte Teilung Europas lässt den „Allergrößten“ nicht mehr so gut aussehen. Unzureichende Familien- und rigide Sozialpolitik kennzeichneten seine 14 Regierungsjahre. Zu Zeiten von Vollbeschäftigung und maximalem Wirtschaftswachstum hätte man Vorsorge für kommende Generationen treffen sollen, statt zu konsumieren und für die Wiederaufrüstung Schulden zu machen. Das Wirtschafts- und Sozialsystem dieses Landes, von Konrad Adenauer mit vorgegeben, ist mittlerweile an seine Grenzen gestoßen. Die Probleme von heute wurden unter Adenauer eingeleitet. Man muss sehr klein sein, das nicht zu erkennen. Nostalgische Sehnsucht nach bürgerlicher Idylle mag Adenauer attraktiv erscheinen lassen. In den brummenden Aufbaujahren waren noch alle einbezogen, nur wenige Kommunisten ausgeschlossen. Verdeckte Scham über die bis heute nicht bewältigte, furchtbare geschichtliche Schuld mag auch eine Rolle spielen. Die gebrandmarkten Verlierer des zweiten Weltkriegs wandelten sich Dank Adenauer zu wirtschaftlichen Siegern in einem neuen Europa. Ethisch-moralisch wertet das weder sie noch Adenauer auf. Es ist ein sehr kurzer, nabelsichtiger Blick, der einen Adenauer emporhebt. Denn selbst politisch-diplomatisch konnte er z. B. einem vergleichbaren Bismarck nicht das Wasser reichen. Der ordnete weitsichtig in kurzer Zeit ganz Mitteleuropa und gab seinen Nachfolgern beste Karten in die Hand. Sie verspielten sie alle. Aber Adenauer passte zu den Westdeutschen und ihrer Lage in ihrer Zeit, so sind sie ihm dankbar. Traurig, dass auch die heutige CDU noch so perfekt zu einem Konrad Adenauer passt. Es lässt kaum wirklich Zukunftsträchtiges erwarten. Bernd-R. Paulke, Eiche
Bernd-R. Paulke, Eiche
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