Lesermeinung: „Die Freiheit – auch die des Gegners“
Zu: Angie, Angie, Angie!“, 2.
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Zu: Angie, Angie, Angie!“, 2.9. Ungläubig und mit großer Verwunderung las ich den Artikel über den Besuch von Angela Merkel in Potsdam. Angie, Angie, Angie! Beifall für Merkel? Davon konnte man, wenn man sich unter den normalen Potsdamer Bürgern ohne schwarzes Parteibuch befand, nicht wirklich viel spüren. Allenfalls höflicher Beifall und neugieriges Bestaunen des neuen Stars am schwarzen Himmel waren zu vernehmen, wenn man sich außerhalb des von CDU Mitgliedern und -Sympathisanten umringten und eingezäunten Pressebereichs befand, in dem man statt von Ihnen beschriebene Angie-Schilder und Hüften schwingende Damen vor allem trotzig und starr stehende Schildträger sah. Wenn man von den aktiven und stimmgewaltigen jungen Menschen in Richtung Brandenburger Straße mal absieht und nur den geneigten oder zufällig passierenden Bürger betrachtet, kommt man zu der Erkenntnis, dass Frau Merkel mit ihrer relativ inhaltsleeren Rede vor allem eines bewirkte: Unverständnis. Dass in der PNN ein falsches Stimmungsbild von dieser Veranstaltung gezeichnet wurde, muss nicht unbedingt der mangelnden journalistischen Kompetenz zugeschrieben werden, sondern eher des Wahlkundgebungsorganisationstalents der CDUler, die verhindern wollten, dass die tatsächlichen Reaktionen der Bürger an die Presse geraten. Wenn die Wahlkampfkundgebung auch positiver verlief als jene vor drei Jahren, kann hier noch lange nicht von einem Erfolg und einer Akzeptanz Merkels bei den Potsdamern gesprochen werden. Thomas Nader, per E-Mail Demokratisierung der Demokratie Das Schlimme an der Demokratie ist die Freiheit des Gegners. Ungefähr das muss sich die Potsdamer CDU gedacht haben, bevor sie ihr gespaltenes Verhältnis zu eben jenen Grund- und Bürgerrechten offenbarte, welche die Union doch nach 1945 gegen Widerspruch in den eigenen Reihen selbst etabliert hat. Beim Potsdam-Besuch der Kanzlerkandidatin Angela Merkel wurden Gegendemonstranten hinter einen massiv von Polizeikräften bewachten Sicherheitszaun verwiesen – und das auf einem öffentlichen Platz. Über diesen durfte die CDU als Veranstalter scheinbar nach Belieben verfügen, sandte bullige Glatzköpfe als „Ordner“ und wurde darin von der Polizei unterstützt, die diensteifrig Videoaufnahmen der „Störenfriede“ machte. Nun ist ja zu verstehen, dass die Wahlkampfrede einer Bundespolitikerin nicht im rein destruktiven Dissens pseudo-linker Chaoten untergehen soll. Wer nur nölt und grölt und somit andere in ihrer politischen Bildung stört, soll ruhig verschwinden müssen. Dass aber für einen jeden Bürger, der Aufkleber anderer Parteien auf der Kleidung trägt oder ein Unions-kritisches Schild gemalt hat, die rechtlich fixierte Unschuldsvermutung nicht gilt, ist nicht hinzunehmen. Und dass orangene Horden offensichtlich instruierter CDU-Helfer jeden hinter den Zaun verbannten Zwischenrufer oder Plakatträger sofort mit Verbalinjurien belegen oder die Kameras, die Augen der Öffentlichkeit, von den Protestbildern abschirmen, indem sie den von allem Leid erlösenden Namen „Angie“ per Schutzschild davor halten, zeugt nicht gerade von einer freiheitlichen Parteikultur. Die Demokratie zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass Widerspruch erlaubt, ja ideell sogar erwünscht ist. Bei der Union kann sich ein Teil der Interessierten aber erst gar kein Bild von deren Wahlprogramm machen, weil man die Rede Merkels inmitten des Lärms der künstlich zusammen gepferchten Gegnerschaft gar nicht verstand. Bundesaußenminister Joschka Fischer ging vor einer Woche,bei wesentlich weniger Polizeischutz, auf jeden noch so aggressiven Zwischenrufer ein. Angela Merkel sperrte von Anfang an jeden potentiellen Jubel-Verweigerer aus. Neben dem Kopftuch und der NPD soll also möglichst auch das Ausbleiben der Zustimmung verboten werden. Bei solchen autoimmunisierenden Selbstschutzmechanismen obsiegt zwar kurzzeitig das Bedürfnis nach Einheit in der Gegenwart, aber die seit 1989 auch hier geltende, ewige Ethik verliert. Zum Abschluss beschwor die zwangskonformisierte Menge innerhalb der Absperrung ihren Nationalstolz mit dem kollektiven Singen der deutschen Nationalhymne. Wenn diese fragwürdige Intonierung auch vom öffentlich propagierten Verfassungspatriotismus abweicht, so nennt sie doch als fünftes Wort einen unverzichtbaren Wert. Dieses große Gut fehlte in Potsdam und anderswo 40 lange Jahre. Da darf doch eine demokratische Partei dies nicht unterdrücken: Die Freiheit - auch, und erst recht nicht, wenn es die des Gegners ist. Martin Gobbin, Potsdam
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