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Lesermeinung: Die Ich-Menschen und die Wir-Menschen

Einem Ich-Menschen zu erklären, was ein Wir-Mensch ist, das funktioniert erfahrungsgemäß nicht. Umgekehrt muss man keinem Wir-Menschen erzählen, was ein Ich-Mensch ist.

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Einem Ich-Menschen zu erklären, was ein Wir-Mensch ist, das funktioniert erfahrungsgemäß nicht. Umgekehrt muss man keinem Wir-Menschen erzählen, was ein Ich-Mensch ist. Ein Muster-Exemplar von einem Ich-Menschen führt einem Tag für Tag vor, dass selbst ausgereizt erscheinende Egoismen noch steigerungsfähig sind. Für die ausgesprochenen Ich-Menschen waren diese 40 Jahre DDR einfach nur ganz furchtbar. Bei jeder Gelegenheit bringen sie hervor, wie sehr sie gegängelt wurden, sich eingeengt fühlten und sich unterordnen mussten. Die heutige Atmosphäre des bedenkenlosen Auslebens aller Egoismen inspiriert sie dabei sich vorzustellen, wie alles für sie hätte anders sein können. Persönliche Schwachstellen und Versagensmomente werden immer weiter verdrängt und begraben. Und die Fragenden aus dem Westen sind ohnehin parteiisch und begegnen allem Anderen, als Ich-Menschentum, meist mit völligem Unverständnis. Die Wir-Menschen wissen, dass sie viel verloren haben, vor allem die vielleicht einmalige Chance auf eine Gegen-Welt, geprägt durch Gemeinschaftssinn, Verachtung des Geldes und echte Solidarität. Sie sind irritiert, ständig zu hören, dass alles von vornherein grundverkehrt gewesen sein soll. Erinnerungen an die vielen Sonderschichten und Subbotniks kommen hoch, an die unzweifelhaft erbrachten Aufbauleistungen, die heute in Frage gestellt werden. Da waren die Diskussionen, die Losungen Vom Ich zum Wir''. Sie hatten sich bemüht, dem zu folgen, weil es zu ihnen, ihrer Einstellung und der Zeit passte. Und sie sahen lange Zeit Fortschritte. Der Gipfelpunkt lag zweifellos in der Mitte der 70er Jahre, geprägt durch UNO-Beitritt und Helsinki-Konferenz. Die Phase der Stagnation und des Niedergangs in den 80ern gab dann schon schwerwiegenden Anlass, auf die Wurzeln zu schauen, nach Fixpunkten in der Vergangenheit zu suchen. Die wesentlichen Entscheidungen gingen doch in Ordnung, oder nicht ? Es gab, gibt und wird immer Menschen geben, die über ihr Ich hinausdenken. Besonders Mütter neigen dazu, auch Mutter Theresa und Albert Schweitzer sind unvergessen. Zumindest in der ersten Hälfte dieser 40 Jahre versuchten sehr viele im Osten, das bewußt in sich aufzunehmen und auszuleben. Diesen Teil von DDR-Geschichte und -Mentalität kann und wird im Westen kaum einer je begreifen, weil es dort nicht nachempfindbar ist. Aber es ist real und unleugbar vorhanden. Jeder, der den Andrang an den Kinokassen zu Good-bye, Lenin'' miterlebt hat, konnte es spüren. Wer das Gefühl kennt, in einem ungleichen Konkurrenzkampf zu stehen, auf die Seite mit den schlechteren materiellen Voraussetzungen und allen denkbaren Nachteilen gestellt zu sein, der versteht das. Von vielen Zweifeln belastet, versucht man, einen ungewohnten, neuen Weg zu gehen. Die überzeugten Ich-Menschen kennen diese Zweifel nicht. Erfolgreiches Einzelkämpfertum im kapitalistischen Dschungel ist für sie der einzige Weg, bürgerliches Recht ist ewiges Recht, Gemeinschaft bedeutet Utopie. Weit verbreitete Egomanie ist der Lohn und gleichzeitig Preis für dieses Denken. Die Position der Wir-Menschen wird dadurch erschwert, dass nachträglich viele ihrer Anführer als Ich-Menschen entlarvt wurden. Zu erkennen, wie klein diejenigen waren, die eine große Idee zu tragen vorgaben, war für Tausende unendlich bitter. Ihre Reaktionen darauf waren unterschiedlich: Viele wechselten, laut Lüge, Betrug und Verrat'' rufend, mit wehenden Fahnen in das andere Lager. Die Mehrzahl zog sich tief resigniert in sich selbst zurück. Die hervorstechenden Ich-Menschen des Ostens wurden früher unter DDR-Dissidenten'' zusammengefasst. Nicht eine(r) hat Bedauern über die soziale Entwicklung im Osten nach der Wende geäußert oder unbeabsichtigte Wirkungen des eigenen Tuns eingeräumt. Ganz typisch ist, dass man sich sogar vom ehemaligen politischen Gegner hofieren und feiern lässt, wenn das eigene Lager nicht mehr laut genug den beständig geforderten Beifall klatscht. Unter sich schwelgen die Ich-Menschen oft in Moral – im Kontakt mit Wir-Menschen werden sie schnell kleinlaut. Denn die gingen letztlich den schwereren Weg und erhielten die Gemeinwesen bis zur Wende aufrecht. Spätestens in den Rückübertragungsstreitigkeiten zu Häusern und Grundstücken im Osten wurde die moralische Frage endgültig und erschöpfend zuungunsten der Ich-Menschen beantwortet. Dr. Bernd-R.Paulke, Eiche

Dr. Bernd-R.Paulke, Eiche

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