Lesermeinung: Fluchtwohnung für Homosexuelle wird gebraucht
Fluchtraum für Homosexuelle nicht nötig, 17. Mai 2008Ich bin 16 Jahre alt und selbst homosexuell.
Stand:
Fluchtraum für Homosexuelle nicht nötig, 17. Mai 2008
Ich bin 16 Jahre alt und selbst homosexuell. Nach den Aussagen von Frau Kerntopf ist eine Fluchtwohnung für homosexuelle Jugendliche nicht notwendig. Es gäbe ja schließlich das „Come In“-Café, welches ja auch einen „Schutzraum“ für die Betroffenen bietet. Ob Frau Kerntopf auch nachts um 24 Uhr ihre Hilfe in den Räumlichkeiten anbietet? So wie es sich anhört, ist es ja wohl egal und interessiert niemanden. Die drei Jugendlichen pro Jahr! Also wissen wir Jugendlichen nun, dass, wenn wir von unseren Eltern zuhause verprügelt worden sind und rausgeschmissen wurden, nachdem wir uns geoutet haben, dass wir auch nachts die Hilfe von Frau Kerntopf und den Ehrenamtlerinnen in Anspruch nehmen können. Meine persönliche Geschichte ist, dass ich damals mit zwölf Jahren nicht wusste, wie meine Eltern und Freunde darauf reagieren würden. Bei uns im Dorf ist „Schwulsein“ absolut tabu. Du bist echt kein Kerl mehr. Ich hab“s nicht mal meiner besten Freundin erzählt. Ich fand alles besser, als es meinen Eltern zu sagen. Drogen, Alkohol, alles Mögliche. Ich fing an mich selbst zu verletzen – am ganzen Körper. Irgendwann startete ich auch Selbstmordversuche. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was „Autoagressionen“ sind. Die Psychologen der Landesklinik Brandenburg haben es mir erklärt. Dort habe ich mich auch erstmals in meinen Leben geoutet. Ich denke, dass es sinnvoller ist, wenn homosexuelle Jugendliche einen Zufluchtsort haben, wo sie wirklich rund um die Uhr auftauchen können und sich sicher fühlen können, wo ihnen ein Bett und Essen geboten werden.
Leider kommt es noch viel zu oft vor, dass Jugendliche von ihren Eltern nach dem Coming-Out rausgeschmissen werden und dann erstmal auf der Straße sitzen. Ich denke nicht, dass die Leute vom „Come In“-Café diesen Jugendlichen abends ein Bett und Essen bieten können, zumindest nicht über mehrere Tage, so wie es ja der Sinn von einer Fluchtwohnung sein soll.
Marcel V., per E-Mail
Nach familiären Konflikten werden bekannte Anlaufstellen gesucht
Frau Kerntopf behauptet, eine Fluchtwohnung sei nicht notwendig, da die Zahl der betroffenen Jugendlichen zu gering sei. Worauf stützt Frau Kerntopf ihre Aussage? Auf welche statistischen Quellen beruft sie sich? Spricht man beispielsweise mit den Wirten einschlägiger Szenekneipen in Potsdam, so weiß keiner etwas über Umfragen oder Gespräche von Frau Kerntopf und ihrem Verein mit Betroffenen vor Ort zu berichten. Erst recht nicht über konkrete Hilfsangebote an Jugendliche, für die diese Lokale oftmals die einzige bekannte Anlaufstelle nach einem familiären Konflikt sind. Sowohl die Wirte der Potsdamer Community, als auch viele Homosexuelle in Potsdam wissen um eine wesentlich größere Zahl von Jugendlichen, deren Zuhause mit ihrem Coming-Out zur Hölle wurde.
Kneipenwirte oder beste Freunde stellen jedoch schlechte Sozialarbeiter dar. Nicht weil es ihnen an Engagement mangelt (oft ist das Gegenteil der Fall), sondern weil ihnen schlichtweg die Infrastruktur und Kompetenz fehlen. Eine Fluchtwohnung würde helfen, genau dieses zu schaffen. Hier kann ein Sozialarbeiter gezielt Minderjährigen eine dauerhafte, sichere Bleibe verschaffen und gleichzeitig für den weiteren Besuch der Schule oder für die Aufnahme einer Ausbildung sorgen. Oder Volljährige bei Behördengängen wie beispielsweise zur Paga oder zur Kindergeldkasse begleiten und eine weitere Diskriminierung sowie das Abrutschen in Armut verhindern. Genau das forderte Carsten Bock. Doch das scheint Frau Kerntopf nicht zu bewegen. Sie beharrt auf ihrem steuerfinanzierten Café, dessen Bekanntheitsgrad bei behördengleichen Öffnungszeiten unter märkischen Homosexuellen gegen Null tendiert.
Ein Armutszeugnis für eine Landeskoordinierungsstelle, die das Wort der Vernetzung und damit der generellen Bekanntheit schon im Namen trägt und noch dazu aus Landesmittel finanziert wird. Es kommt einem Offenbarungseid nahe, wenn die Leiterin dieser Koordinierungsstelle öffentlich bekundet, man würde den Ausbau von Schutz und Betreuung für junge Lesben und Schwule nicht brauchen. Die Realität könnte sie jederzeit eines Besseren belehren. Am Internationalen Tag gegen Homophobie bleibt dies nicht ohne fahlen Nachgeschmack.
Thomas Wegner, Potsdam
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